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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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kel bleibt hiebey für jetzt noch, wie es zugehe, dass nicht
alle gehemmten Vorstellungen sich unaufhörlich als
Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entge-
gengesetzten sich als Verabscheuungen äussern? Diese
Frage aber kann nur dienen uns zu erinnern, dass der
Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel weiterer ist, als
der des Begehrens und Verabscheuens, und dass zu je-
nem noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmun-
gen hinzukommen müssen, um diesen zu ergeben. So
wissen wir auch noch nichts von den Gesetzen, nach
welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt,
dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervor-
gehoben werden. Die Aufschlüsse hierüber können erst
durch Vergleichung der Erfahrung mit den Lehrsätzen
der Mechanik des Geistes herbeygeführt werden. Allein
schon die Kenntniss des genus, noch ohne die genauere
Einsicht in das Eigenthümliche der species, hilft eine
Menge von Irrthümern zu entfernen, denen man in Hin-
sicht des Gedächtnisses und des Willens sich gemeinhin
zu ergeben pflegt.

§. 38.

Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine
unerwartete Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen
das Hauptproblem noch sehr im Dunkeln liegen, und
wird auch noch lange nicht aus demselben hervorgeho-
ben werden können. Was das Streben vorzustel-
len, für die Ichheit leiste
? das ist bis jetzt nur noch
in dem höchst allgemeinen Räsonnement zu erkennen,
dass die fremden Vorstellungen bleiben, ihre Objecte aber
weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht,
und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortre-
ten soll. Doch um wahrzunehmen, dass wir der Auflö-
sung um etwas näher gerückt sind, wolle man zurück-
blicken in den §. 28. Dort kam der Satz vor: "Erst
"dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört
"etwas an ihnen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zu-
"menfassung in Ein Vorstellen; und was aus dieser wei-

kel bleibt hiebey für jetzt noch, wie es zugehe, daſs nicht
alle gehemmten Vorstellungen sich unaufhörlich als
Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entge-
gengesetzten sich als Verabscheuungen äuſsern? Diese
Frage aber kann nur dienen uns zu erinnern, daſs der
Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel weiterer ist, als
der des Begehrens und Verabscheuens, und daſs zu je-
nem noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmun-
gen hinzukommen müssen, um diesen zu ergeben. So
wissen wir auch noch nichts von den Gesetzen, nach
welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt,
dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervor-
gehoben werden. Die Aufschlüsse hierüber können erst
durch Vergleichung der Erfahrung mit den Lehrsätzen
der Mechanik des Geistes herbeygeführt werden. Allein
schon die Kenntniſs des genus, noch ohne die genauere
Einsicht in das Eigenthümliche der species, hilft eine
Menge von Irrthümern zu entfernen, denen man in Hin-
sicht des Gedächtnisses und des Willens sich gemeinhin
zu ergeben pflegt.

§. 38.

Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine
unerwartete Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen
das Hauptproblem noch sehr im Dunkeln liegen, und
wird auch noch lange nicht aus demselben hervorgeho-
ben werden können. Was das Streben vorzustel-
len, für die Ichheit leiste
? das ist bis jetzt nur noch
in dem höchst allgemeinen Räsonnement zu erkennen,
daſs die fremden Vorstellungen bleiben, ihre Objecte aber
weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht,
und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortre-
ten soll. Doch um wahrzunehmen, daſs wir der Auflö-
sung um etwas näher gerückt sind, wolle man zurück-
blicken in den §. 28. Dort kam der Satz vor: „Erst
„dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört
„etwas an ihnen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zu-
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[150/0170] kel bleibt hiebey für jetzt noch, wie es zugehe, daſs nicht alle gehemmten Vorstellungen sich unaufhörlich als Begierden, und, in Beziehung auf dieselben, ihre entge- gengesetzten sich als Verabscheuungen äuſsern? Diese Frage aber kann nur dienen uns zu erinnern, daſs der Begriff des Strebens vorzustellen, ein viel weiterer ist, als der des Begehrens und Verabscheuens, und daſs zu je- nem noch viele nähere, bis jetzt unbekannte, Bestimmun- gen hinzukommen müssen, um diesen zu ergeben. So wissen wir auch noch nichts von den Gesetzen, nach welchen Vorstellungen, erst bis zum Vergessen gehemmt, dann als ein Eigenthum des Gedächtnisses wieder hervor- gehoben werden. Die Aufschlüsse hierüber können erst durch Vergleichung der Erfahrung mit den Lehrsätzen der Mechanik des Geistes herbeygeführt werden. Allein schon die Kenntniſs des genus, noch ohne die genauere Einsicht in das Eigenthümliche der species, hilft eine Menge von Irrthümern zu entfernen, denen man in Hin- sicht des Gedächtnisses und des Willens sich gemeinhin zu ergeben pflegt. §. 38. Während nun die eben erwähnten Gegenstände eine unerwartete Aufhellung empfangen haben: bleibt dagegen das Hauptproblem noch sehr im Dunkeln liegen, und wird auch noch lange nicht aus demselben hervorgeho- ben werden können. Was das Streben vorzustel- len, für die Ichheit leiste? das ist bis jetzt nur noch in dem höchst allgemeinen Räsonnement zu erkennen, daſs die fremden Vorstellungen bleiben, ihre Objecte aber weichen müssen, wenn das Ich, das sich auf sie bezieht, und dennoch ihnen allen entgegengesetzt ist, hervortre- ten soll. Doch um wahrzunehmen, daſs wir der Auflö- sung um etwas näher gerückt sind, wolle man zurück- blicken in den §. 28. Dort kam der Satz vor: „Erst „dann, wenn mehrere Objecte vorgestellt werden, gehört „etwas an ihnen dem Vorstellenden; nämlich ihre Zu- „menfassung in Ein Vorstellen; und was aus dieser wei-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/170>, abgerufen am 19.03.2024.