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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Zweyter Abschnitt.
Grundlinien der Statik des Geistes.

Erstes Capitel.
Summe und Verhältniss der Hemmung bey
vollem Gegensatz.
§. 41.

Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so
gross als möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt
werden muss, damit die andre ungehemmt bleibe. Die-
ser Fall tritt zwar niemals ein; denn eine Vorstellung
wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Wi-
derstand muss allemal auch in der entgegengesetzten eine
gewisse Hemmung hervorbringen. Aber man kann sich
die Fiction erlauben, dass die ganze Stärke des Gegen-
satzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf
eine der beyden falle: alsdann ist das höchste, was ge-
schehn kann, völliges Sinken dieser einen, oder völliges
Erlöschen ihres Vorgestellten, bey Verwandlung ihrer
ganzen Thätigkeit in ein blosses Streben wider die ent-
gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es
würde keinen Sinn haben, wenn man sich das Quantum
des wirklichen Vorstellens noch über Null hinaus abneh-
mend, folglich negativ, denken wollte.

Wohl aber lässt sich ein minderer Gegensatz den-
ken. Diesem zufolge würde eine Vorstellung ganz unge-
hemmt bleiben können, wenn von der andern nur ein be-


Zweyter Abschnitt.
Grundlinien der Statik des Geistes.

Erstes Capitel.
Summe und Verhältniſs der Hemmung bey
vollem Gegensatz.
§. 41.

Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so
groſs als möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt
werden muſs, damit die andre ungehemmt bleibe. Die-
ser Fall tritt zwar niemals ein; denn eine Vorstellung
wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Wi-
derstand muſs allemal auch in der entgegengesetzten eine
gewisse Hemmung hervorbringen. Aber man kann sich
die Fiction erlauben, daſs die ganze Stärke des Gegen-
satzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf
eine der beyden falle: alsdann ist das höchste, was ge-
schehn kann, völliges Sinken dieser einen, oder völliges
Erlöschen ihres Vorgestellten, bey Verwandlung ihrer
ganzen Thätigkeit in ein bloſses Streben wider die ent-
gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es
würde keinen Sinn haben, wenn man sich das Quantum
des wirklichen Vorstellens noch über Null hinaus abneh-
mend, folglich negativ, denken wollte.

Wohl aber läſst sich ein minderer Gegensatz den-
ken. Diesem zufolge würde eine Vorstellung ganz unge-
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[[158]/0178] Zweyter Abschnitt. Grundlinien der Statik des Geistes. Erstes Capitel. Summe und Verhältniſs der Hemmung bey vollem Gegensatz. §. 41. Der Gegensatz zweyer Vorstellungen ist voll, oder so groſs als möglich, wenn eine von beyden ganz gehemmt werden muſs, damit die andre ungehemmt bleibe. Die- ser Fall tritt zwar niemals ein; denn eine Vorstellung wird nur gehemmt, indem sie widersteht; und ihr Wi- derstand muſs allemal auch in der entgegengesetzten eine gewisse Hemmung hervorbringen. Aber man kann sich die Fiction erlauben, daſs die ganze Stärke des Gegen- satzes, folglich die ganze Nöthigung zum Sinken nur auf eine der beyden falle: alsdann ist das höchste, was ge- schehn kann, völliges Sinken dieser einen, oder völliges Erlöschen ihres Vorgestellten, bey Verwandlung ihrer ganzen Thätigkeit in ein bloſses Streben wider die ent- gegengesetzte. Mehr als Sinken kann sie nicht, und es würde keinen Sinn haben, wenn man sich das Quantum des wirklichen Vorstellens noch über Null hinaus abneh- mend, folglich negativ, denken wollte. Wohl aber läſst sich ein minderer Gegensatz den- ken. Diesem zufolge würde eine Vorstellung ganz unge- hemmt bleiben können, wenn von der andern nur ein be-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. [158]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/178>, abgerufen am 19.04.2024.