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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Dritter Abschnitt.
Grundlinien der Mechanik des Geistes.

Erstes Capitel.
Vom Sinken der Hemmungssumme.
§. 74.

Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann
kann es nur durch neue, hinzutretende Kräfte gestört
werden. Allein da wir von Vorstellungen reden, so dringt
sich zuerst die Bemerkung auf, dass in Ansehung ihrer
es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfäng-
lichen Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ur-
sprünglich alle ganz ungehemmt; eben in diesem ihren
natürlichen Zustande bilden sie auch (wofern nur ihrer
mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem-
mungssumme; diese nun muss sinken, und hiemit ist so-
gleich eine Bewegung der Vorstellungen vorhanden. In
der Reihe der Untersuchungen mussten wir zuerst das
Gleichgewicht bestimmen; in der Wirklichkeit geht die
Bewegung dem Gleichgewichte voran.

Indem die Hemmungssumme sinkt: hat sie in jedem
Augenblicke eine bestimmte Geschwindigkeit, und in
der bis dahin abgelaufenen Zeit ist ein bestimmtes Quan-
tum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen.

Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen? Wird
mit unendlicher Geschwindigkeit, plötzlich, das unge-
hemmte Vorstellen zu dem gehörig gehemmten übersprin-


Dritter Abschnitt.
Grundlinien der Mechanik des Geistes.

Erstes Capitel.
Vom Sinken der Hemmungssumme.
§. 74.

Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann
kann es nur durch neue, hinzutretende Kräfte gestört
werden. Allein da wir von Vorstellungen reden, so dringt
sich zuerst die Bemerkung auf, daſs in Ansehung ihrer
es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfäng-
lichen Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ur-
sprünglich alle ganz ungehemmt; eben in diesem ihren
natürlichen Zustande bilden sie auch (wofern nur ihrer
mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem-
mungssumme; diese nun muſs sinken, und hiemit ist so-
gleich eine Bewegung der Vorstellungen vorhanden. In
der Reihe der Untersuchungen muſsten wir zuerst das
Gleichgewicht bestimmen; in der Wirklichkeit geht die
Bewegung dem Gleichgewichte voran.

Indem die Hemmungssumme sinkt: hat sie in jedem
Augenblicke eine bestimmte Geschwindigkeit, und in
der bis dahin abgelaufenen Zeit ist ein bestimmtes Quan-
tum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen.

Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen? Wird
mit unendlicher Geschwindigkeit, plötzlich, das unge-
hemmte Vorstellen zu dem gehörig gehemmten übersprin-

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[[244]/0264] Dritter Abschnitt. Grundlinien der Mechanik des Geistes. Erstes Capitel. Vom Sinken der Hemmungssumme. §. 74. Wenn schon ein Gleichgewicht vorhanden ist, dann kann es nur durch neue, hinzutretende Kräfte gestört werden. Allein da wir von Vorstellungen reden, so dringt sich zuerst die Bemerkung auf, daſs in Ansehung ihrer es nicht erlaubt ist, das Gleichgewicht als ihren anfäng- lichen Zustand vorauszusetzen. Vielmehr sind sie ur- sprünglich alle ganz ungehemmt; eben in diesem ihren natürlichen Zustande bilden sie auch (wofern nur ihrer mehrere entgegengesetzte beysammen sind) eine Hem- mungssumme; diese nun muſs sinken, und hiemit ist so- gleich eine Bewegung der Vorstellungen vorhanden. In der Reihe der Untersuchungen muſsten wir zuerst das Gleichgewicht bestimmen; in der Wirklichkeit geht die Bewegung dem Gleichgewichte voran. Indem die Hemmungssumme sinkt: hat sie in jedem Augenblicke eine bestimmte Geschwindigkeit, und in der bis dahin abgelaufenen Zeit ist ein bestimmtes Quan- tum gesunken. Beydes haben wir zu berechnen. Oder wird das Sinken keine Zeit verbrauchen? Wird mit unendlicher Geschwindigkeit, plötzlich, das unge- hemmte Vorstellen zu dem gehörig gehemmten übersprin-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. [244]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/264>, abgerufen am 19.03.2024.