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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstel-
lungen im Bewusstseyn behauptet.


Siebentes Capitel.
Von den Vorstellungsreihen niederer und höhe-
rer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wech-
selwirkung.
§. 100.

Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher wa-
ren wir eng eingeschlossen durch die Nothwendigkeit, die
Vorstellungen als einzelne zu betrachten, um die Ele-
mente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt fange
der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam
nach einem grösseren Maassstabe ausgeführt zu denken.
Tausende oder Millionen von Vorstellungen, die auf ein-
mal im Bewusstseyn sind, und, sich gegenseitig hemmend,
ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht ent-
weder
vollkommen oder unvollkommen seyen, sondern
in welchen mit zehn oder zwanzigen völlig verbundenen,
noch unzählige andere mit allen möglichen Abstufungen
minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer oder
dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der
Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung
im Auge hatten, denke man sich jetzt eine Menge un-
endlich nahe stehender, zusammenfliessender einfacher
Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung
aller, zwar nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Ur-
theil, aber ein Gefühl des Angenehmen oder Unangeneh-
men entspringen. Auch die Bewegungen der Vorstellun-
gen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction
seyen dergestalt mannigfaltig, dass die Hemmungssum-
men, während sie abnehmen, schon wieder neue Zusätze

mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstel-
lungen im Bewuſstseyn behauptet.


Siebentes Capitel.
Von den Vorstellungsreihen niederer und höhe-
rer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wech-
selwirkung.
§. 100.

Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher wa-
ren wir eng eingeschlossen durch die Nothwendigkeit, die
Vorstellungen als einzelne zu betrachten, um die Ele-
mente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt fange
der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam
nach einem gröſseren Maaſsstabe ausgeführt zu denken.
Tausende oder Millionen von Vorstellungen, die auf ein-
mal im Bewuſstseyn sind, und, sich gegenseitig hemmend,
ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht ent-
weder
vollkommen oder unvollkommen seyen, sondern
in welchen mit zehn oder zwanzigen völlig verbundenen,
noch unzählige andere mit allen möglichen Abstufungen
minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer oder
dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der
Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung
im Auge hatten, denke man sich jetzt eine Menge un-
endlich nahe stehender, zusammenflieſsender einfacher
Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung
aller, zwar nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Ur-
theil, aber ein Gefühl des Angenehmen oder Unangeneh-
men entspringen. Auch die Bewegungen der Vorstellun-
gen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction
seyen dergestalt mannigfaltig, daſs die Hemmungssum-
men, während sie abnehmen, schon wieder neue Zusätze

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[349/0369] mit welcher sich eine Gesammtheit gleichartiger Vorstel- lungen im Bewuſstseyn behauptet. Siebentes Capitel. Von den Vorstellungsreihen niederer und höhe- rer Ordnungen; ihrer Verwebung und Wech- selwirkung. §. 100. Wir dürfen jetzt freyere Blicke wagen. Bisher wa- ren wir eng eingeschlossen durch die Nothwendigkeit, die Vorstellungen als einzelne zu betrachten, um die Ele- mente ihrer Wirksamkeit kennen zu lernen. Jetzt fange der Leser damit an, sich alles Vorhergehende gleichsam nach einem gröſseren Maaſsstabe ausgeführt zu denken. Tausende oder Millionen von Vorstellungen, die auf ein- mal im Bewuſstseyn sind, und, sich gegenseitig hemmend, ins Gleichgewicht treten! Complexionen, die nicht ent- weder vollkommen oder unvollkommen seyen, sondern in welchen mit zehn oder zwanzigen völlig verbundenen, noch unzählige andere mit allen möglichen Abstufungen minder und minder zusammenhängen! Statt zweyer oder dreyer Töne, deren musikalische Intervalle wir in der Lehre von der Verschmelzung vor der Hemmung im Auge hatten, denke man sich jetzt eine Menge un- endlich nahe stehender, zusammenflieſsender einfacher Empfindungen; so wird in der unauflöslichen Mischung aller, zwar nicht ein scharf bestimmtes ästhetisches Ur- theil, aber ein Gefühl des Angenehmen oder Unangeneh- men entspringen. Auch die Bewegungen der Vorstellun- gen bey ihrer mittelbaren oder unmittelbaren Reproduction seyen dergestalt mannigfaltig, daſs die Hemmungssum- men, während sie abnehmen, schon wieder neue Zusätze

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/369>, abgerufen am 19.03.2024.