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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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§. 18.

Genügen wird Keinem das Locke'sche Werk, der
metaphysische Ueberzeugungen besitzt. Gleich die erste
Erkenntnissquelle, die Sensation, musste Leibniz ab-
leugnen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit je-
des physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele
ohne Ausnahme, von ihrer eignen Entwickelung erwar-
tete. Und es ist nur Gefälligkeit (die aber die Untersu-
chung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon
beym ersten Paragraphen auf einen Standpunct herab-
lässt, wo er von Vorstellungen, die durch die Sinne ge-
geben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die noth-
wendigen Wahrheiten. Dass die Leibniz'schen nou-
veaux essays
dem Locke'schen Versuche Schritt für Schritt
folgen, hindert vielfältig die freye und vollständige Ent-
wickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre des
Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstiess,
übersieht man besser auf einen Blick in den kurzen re-
flexions sur l'essay de Mr. Locke
*); wo Leibniz unter
andern das wahre Wort spricht: la question de l'origine
de nos idees n'est pas preliminaire en philosophie, et il faut
avoir fait de grands progres pour la bien resoudre
. --

Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen
tiefgegriffenen speculativen Hauptgedanken, hatte Leib-
nizen
dahin gebracht, überall in der Welt und in der
Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmässige und
harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang
ein psychologischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über
die Verbindung der beyden so genannten Hauptvermögen
des Verstandes und Willens. Les qualites et actions in-
ternes d'une monade ne peuvent etre autre chose que ses
perceptions -- et ses appetitions, c'est-a-dire, ses ten-
dances d'une perception a l'autre
**). Deutlicher
noch: actio principii interni qua fit mutatio, seu transitus

*) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 218.
**) A. a. O. S. 32.
§. 18.

Genügen wird Keinem das Locke’sche Werk, der
metaphysische Ueberzeugungen besitzt. Gleich die erste
Erkenntniſsquelle, die Sensation, muſste Leibniz ab-
leugnen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit je-
des physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele
ohne Ausnahme, von ihrer eignen Entwickelung erwar-
tete. Und es ist nur Gefälligkeit (die aber die Untersu-
chung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon
beym ersten Paragraphen auf einen Standpunct herab-
läſst, wo er von Vorstellungen, die durch die Sinne ge-
geben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die noth-
wendigen Wahrheiten. Daſs die Leibniz’schen nou-
veaux essays
dem Locke’schen Versuche Schritt für Schritt
folgen, hindert vielfältig die freye und vollständige Ent-
wickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre des
Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstieſs,
übersieht man besser auf einen Blick in den kurzen re-
flexions sur l’essay de Mr. Locke
*); wo Leibniz unter
andern das wahre Wort spricht: la question de l’origine
de nos idées n’est pas préliminaire en philosophie, et il faut
avoir fait de grands progrés pour la bien resoudre
. —

Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen
tiefgegriffenen speculativen Hauptgedanken, hatte Leib-
nizen
dahin gebracht, überall in der Welt und in der
Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmäſsige und
harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang
ein psychologischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über
die Verbindung der beyden so genannten Hauptvermögen
des Verstandes und Willens. Les qualités et actions in-
ternes d’une monade ne peuvent être autre chose que ses
perceptions — et ses appétitions, c’est-à-dire, ses ten-
dances d’une perception à l’autre
**). Deutlicher
noch: actio principii interni qua fit mutatio, seu transitus

*) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 218.
**) A. a. O. S. 32.
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[52/0072] §. 18. Genügen wird Keinem das Locke’sche Werk, der metaphysische Ueberzeugungen besitzt. Gleich die erste Erkenntniſsquelle, die Sensation, muſste Leibniz ab- leugnen, der bey seiner Einsicht in die Unmöglichkeit je- des physischen Einflusses, alle Vorstellungen der Seele ohne Ausnahme, von ihrer eignen Entwickelung erwar- tete. Und es ist nur Gefälligkeit (die aber die Untersu- chung erschweren dürfte,) wenn sich Leibniz schon beym ersten Paragraphen auf einen Standpunct herab- läſst, wo er von Vorstellungen, die durch die Sinne ge- geben werden, reden kann, im Gegensatz gegen die noth- wendigen Wahrheiten. Daſs die Leibniz’schen nou- veaux essays dem Locke’schen Versuche Schritt für Schritt folgen, hindert vielfältig die freye und vollständige Ent- wickelung der Gedanken. Wie die Erfahrungslehre des Engländers gegen die Metaphysik des Deutschen anstieſs, übersieht man besser auf einen Blick in den kurzen re- flexions sur l’essay de Mr. Locke *); wo Leibniz unter andern das wahre Wort spricht: la question de l’origine de nos idées n’est pas préliminaire en philosophie, et il faut avoir fait de grands progrés pour la bien resoudre. — Eine erhabene Phantasie, unterstützt von einigen tiefgegriffenen speculativen Hauptgedanken, hatte Leib- nizen dahin gebracht, überall in der Welt und in der Seele, lauter Fülle und Continuität, gesetzmäſsige und harmonische Entwickelung zu erblicken. Daraus entsprang ein psychologischer Hauptsatz, der hoch hervorragt, über die Verbindung der beyden so genannten Hauptvermögen des Verstandes und Willens. Les qualités et actions in- ternes d’une monade ne peuvent être autre chose que ses perceptions — et ses appétitions, c’est-à-dire, ses ten- dances d’une perception à l’autre **). Deutlicher noch: actio principii interni qua fit mutatio, seu transitus *) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 218. **) A. a. O. S. 32.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/72>, abgerufen am 19.03.2024.