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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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zeugt, können und müssen vereinigt werden,) theils durch
den scheinbar befreundeten Einfluss des Wolffischen
Systems.

§. 19.

Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fä-
cher getheilten, von Definitionen und Divisionen angefüll-
ten, Lehrgebäudes eben so geschickt wäre, ächtes Den-
ken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken:
so müsste die Wolffische Periode in der That die Blü-
thezeit der Philosophie gewesen seyn. Aber je grösser
die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist
die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird
durch einen kurzen Aufsatz von Leibniz mehr angeregt,
als durch einen ganzen Band von Wolff.

Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so
erwähnt, als ob sie zu der Leibnizischen beynahe wie
die Form zum Inhalte gehörte. Aber wer Leibnizens
Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen
wollte (womit ihr vielleicht kein grosser Dienst geschähe,
denn als System betrachtet, dürfte sie manche Blössen
zeigen, und als eine Summe von geistreichen Räsonne-
ments ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende
Formen gebracht worden,) der müsste doch vor allen
Dingen die prästabilirte Harmonie, auf deren Erfindung
Leibniz selbst überall so vieles Gewicht legt, oder ei-
gentlich den Grundgedanken dieser Lehre, dass keine
Substanz in die andre eingreifen könne *), zum Haupt-
und Mittelpunct des Ganzen machen; er müsste also wohl
vor allen Dingen selbst recht vest davon überzeugt seyn.
Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen Punct zu um-
gehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig
zu machen sucht. Mea parum refert, quid de causa com-
mercii animae cum corpore statuatur;
sind seine eignen
Worte **). Wie verträgt sich diese Gleichgültigkeit mit

*) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 21. §. 7.
**) Wolfii psychol. rationalis in praefatione.

zeugt, können und müssen vereinigt werden,) theils durch
den scheinbar befreundeten Einfluſs des Wolffischen
Systems.

§. 19.

Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fä-
cher getheilten, von Definitionen und Divisionen angefüll-
ten, Lehrgebäudes eben so geschickt wäre, ächtes Den-
ken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken:
so müſste die Wolffische Periode in der That die Blü-
thezeit der Philosophie gewesen seyn. Aber je gröſser
die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist
die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird
durch einen kurzen Aufsatz von Leibniz mehr angeregt,
als durch einen ganzen Band von Wolff.

Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so
erwähnt, als ob sie zu der Leibnizischen beynahe wie
die Form zum Inhalte gehörte. Aber wer Leibnizens
Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen
wollte (womit ihr vielleicht kein groſser Dienst geschähe,
denn als System betrachtet, dürfte sie manche Blöſsen
zeigen, und als eine Summe von geistreichen Räsonne-
ments ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende
Formen gebracht worden,) der müſste doch vor allen
Dingen die prästabilirte Harmonie, auf deren Erfindung
Leibniz selbst überall so vieles Gewicht legt, oder ei-
gentlich den Grundgedanken dieser Lehre, daſs keine
Substanz in die andre eingreifen könne *), zum Haupt-
und Mittelpunct des Ganzen machen; er müſste also wohl
vor allen Dingen selbst recht vest davon überzeugt seyn.
Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen Punct zu um-
gehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig
zu machen sucht. Mea parum refert, quid de causa com-
mercii animae cum corpore statuatur;
sind seine eignen
Worte **). Wie verträgt sich diese Gleichgültigkeit mit

*) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 21. §. 7.
**) Wolfii psychol. rationalis in praefatione.
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[57/0077] zeugt, können und müssen vereinigt werden,) theils durch den scheinbar befreundeten Einfluſs des Wolffischen Systems. §. 19. Wenn das imposante Ansehen eines, in viele Fä- cher getheilten, von Definitionen und Divisionen angefüll- ten, Lehrgebäudes eben so geschickt wäre, ächtes Den- ken zu erwecken, als es fähig ist, Schüler anzulocken: so müſste die Wolffische Periode in der That die Blü- thezeit der Philosophie gewesen seyn. Aber je gröſser die Menge des eingebildeten Wissens, desto geringer ist die Spannung des Forschungsgeistes; und dieser wird durch einen kurzen Aufsatz von Leibniz mehr angeregt, als durch einen ganzen Band von Wolff. Der Wolffischen Philosophie wird manchmal so erwähnt, als ob sie zu der Leibnizischen beynahe wie die Form zum Inhalte gehörte. Aber wer Leibnizens Lehre vollends ausarbeiten und systematisch vortragen wollte (womit ihr vielleicht kein groſser Dienst geschähe, denn als System betrachtet, dürfte sie manche Blöſsen zeigen, und als eine Summe von geistreichen Räsonne- ments ist sie von Leibniz selbst in sehr ansprechende Formen gebracht worden,) der müſste doch vor allen Dingen die prästabilirte Harmonie, auf deren Erfindung Leibniz selbst überall so vieles Gewicht legt, oder ei- gentlich den Grundgedanken dieser Lehre, daſs keine Substanz in die andre eingreifen könne *), zum Haupt- und Mittelpunct des Ganzen machen; er müſste also wohl vor allen Dingen selbst recht vest davon überzeugt seyn. Aber es ist bekannt, wie Wolff diesen Punct zu um- gehen, wie er davon alles übrige möglichst unabhängig zu machen sucht. Mea parum refert, quid de causa com- mercii animae cum corpore statuatur; sind seine eignen Worte **). Wie verträgt sich diese Gleichgültigkeit mit *) Leibnitii op. ed. Dutens. Vol. II. pag. 21. §. 7. **) Wolfii psychol. rationalis in praefatione.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/77>, abgerufen am 19.03.2024.