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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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eine also nur eine unendlich geringe Modification der an-
dern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen
minder gleichartige Selbsterhaltungen; doch nicht eher als
beym vollen Gegensatz der Vorstellungen können völlig
verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden.

Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, dass
Selbsterhaltungen der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins
und dasselbe sind, nur in verschiedenen Beziehungen;
ungefähr so wie Logarithmen und Potenz-Exponenten.

Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zu-
nächst auf das Phänomen, sofern es sich im Bewusstseyn
antreffen lässt: hingegen der Ausdruck Selbsterhaltung
der Seele, bedeutet den realen Actus, der unmittelbar das
Phänomen hervorbringt. Dieser reale Actus ist nicht Ge-
genstand des Bewusstseyns, denn er ist die Thätigkeit
selbst, welche das Bewusstseyn möglich macht. So ge-
hören Selbsterhaltung der Seele und Vorstellung zusam-
men wie Thun und Geschehen. --

Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, dass die Ab-
nahme der Empfänglichkeit, deren Gesetz im vorigen Ca-
pitel angegeben wurde, sich nicht bloss auf völlig gleich-
artige, sondern auch auf zum Theil ungleichartige Vor-
stellungen erstrecken muss. Eine Selbsterhaltung, sofern
sie schon vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann
nicht noch einmal geschehn: darauf beruht die Abnahme
der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine Selbst-
erhaltung oder Vorstellung der andern zum
Theil gleichartig ist, so wird durch die erste
auch die Empfänglichkeit der andern zum Theil
erschöpft
. Hieraus haben wir nun die nächsten Fol-
gerungen zu ziehen.

Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums
können entweder gleichzeitig statt finden, oder einander
nachfolgen.

Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie
roth und violett, oder wie ein paar Töne der nämlichen
Octave), so ist die Empfänglichkeit, die sie erschöpfen,

I. Y

eine also nur eine unendlich geringe Modification der an-
dern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen
minder gleichartige Selbsterhaltungen; doch nicht eher als
beym vollen Gegensatz der Vorstellungen können völlig
verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden.

Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, daſs
Selbsterhaltungen der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins
und dasselbe sind, nur in verschiedenen Beziehungen;
ungefähr so wie Logarithmen und Potenz-Exponenten.

Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zu-
nächst auf das Phänomen, sofern es sich im Bewuſstseyn
antreffen läſst: hingegen der Ausdruck Selbsterhaltung
der Seele, bedeutet den realen Actus, der unmittelbar das
Phänomen hervorbringt. Dieser reale Actus ist nicht Ge-
genstand des Bewuſstseyns, denn er ist die Thätigkeit
selbst, welche das Bewuſstseyn möglich macht. So ge-
hören Selbsterhaltung der Seele und Vorstellung zusam-
men wie Thun und Geschehen. —

Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, daſs die Ab-
nahme der Empfänglichkeit, deren Gesetz im vorigen Ca-
pitel angegeben wurde, sich nicht bloſs auf völlig gleich-
artige, sondern auch auf zum Theil ungleichartige Vor-
stellungen erstrecken muſs. Eine Selbsterhaltung, sofern
sie schon vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann
nicht noch einmal geschehn: darauf beruht die Abnahme
der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine Selbst-
erhaltung oder Vorstellung der andern zum
Theil gleichartig ist, so wird durch die erste
auch die Empfänglichkeit der andern zum Theil
erschöpft
. Hieraus haben wir nun die nächsten Fol-
gerungen zu ziehen.

Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums
können entweder gleichzeitig statt finden, oder einander
nachfolgen.

Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie
roth und violett, oder wie ein paar Töne der nämlichen
Octave), so ist die Empfänglichkeit, die sie erschöpfen,

I. Y
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[337/0357] eine also nur eine unendlich geringe Modification der an- dern ist. Etwas entfernteren Vorstellungen entsprechen minder gleichartige Selbsterhaltungen; doch nicht eher als beym vollen Gegensatz der Vorstellungen können völlig verschiedene Selbsterhaltungen Statt finden. Um dieses gehörig zu verstehen, bedenke man, daſs Selbsterhaltungen der Seele, und Vorstellungen, völlig Eins und dasselbe sind, nur in verschiedenen Beziehungen; ungefähr so wie Logarithmen und Potenz-Exponenten. Durch das Wort Vorstellungen deuten wir zu- nächst auf das Phänomen, sofern es sich im Bewuſstseyn antreffen läſst: hingegen der Ausdruck Selbsterhaltung der Seele, bedeutet den realen Actus, der unmittelbar das Phänomen hervorbringt. Dieser reale Actus ist nicht Ge- genstand des Bewuſstseyns, denn er ist die Thätigkeit selbst, welche das Bewuſstseyn möglich macht. So ge- hören Selbsterhaltung der Seele und Vorstellung zusam- men wie Thun und Geschehen. — Dies vorausgesetzt: so ist offenbar, daſs die Ab- nahme der Empfänglichkeit, deren Gesetz im vorigen Ca- pitel angegeben wurde, sich nicht bloſs auf völlig gleich- artige, sondern auch auf zum Theil ungleichartige Vor- stellungen erstrecken muſs. Eine Selbsterhaltung, sofern sie schon vollzogen ist, und fortdauernd geschieht, kann nicht noch einmal geschehn: darauf beruht die Abnahme der Empfänglichkeit. Folglich, wenn eine Selbst- erhaltung oder Vorstellung der andern zum Theil gleichartig ist, so wird durch die erste auch die Empfänglichkeit der andern zum Theil erschöpft. Hieraus haben wir nun die nächsten Fol- gerungen zu ziehen. Zwey Wahrnehmungen des nämlichen Continuums können entweder gleichzeitig statt finden, oder einander nachfolgen. Sind die gleichzeitigen zum Theil gleichartig (wie roth und violett, oder wie ein paar Töne der nämlichen Octave), so ist die Empfänglichkeit, die sie erschöpfen, I. Y

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/357>, abgerufen am 28.03.2024.