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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich
leidet.

Aber nicht bloss diese Nebenumstände, sondern ein
allgemeiner Grund bewirkt eine Abänderung in dem, was
zuvor über den geringen Verlust der erneuerten Empfäng-
lichkeit bemerkt wurde.

Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstel-
lung in der Seele ruhet, deren Erwachen der neuen
Wahrnehmung Abbruch thun kann: alsdann gilt das zu-
vor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, dass die
zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträcht-
liche Stärke des Vorstellens durch die jetzige Wahrneh-
mung zu erzeugen vermag. Es geschehe nun wirklich
also; und nicht bloss einmal, sondern vielemal wieder-
hohlt: so werden bey jedem künftigen Eintreten einer
neuen, gleichartigen Wahrnehmung, sich alle jene ein-
zelnen, zuvor gebildeten Vorstellungen durch eigne Kraft,
und zum Theil verstärkt durch ihre Verbindungen unter
einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf
diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird,
und wodurch die, zwar vollständig erneuerte, Empfäng-
lichkeit doch immer schneller vermindert, ja endlich, bey
sehr häufiger Wiederhohlung der nämlichen Wahrneh-
mung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf ei-
nen äusserst geringen Grad kann herabgebracht werden.
In diesem Falle befinden wir uns mit den Dingen, die
wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb keinen
merklichen Eindruck auf uns machen.

Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von
selbst, dass unmöglich die einzelnen, aus den wieder-
hohlten Wahrnehmungen gewonnenen, Vorstellungen,
sich ins Bewusstseyn hoch erheben können. Denn die
Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äu-
ssersten Grad übersteigen, in welchem die volle und ganze
Selbsterhaltung dieser Art bestehen würde. Desto grö-
sser und anhaltender aber kann die Anstrengung seyn,

die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich
leidet.

Aber nicht bloſs diese Nebenumstände, sondern ein
allgemeiner Grund bewirkt eine Abänderung in dem, was
zuvor über den geringen Verlust der erneuerten Empfäng-
lichkeit bemerkt wurde.

Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstel-
lung in der Seele ruhet, deren Erwachen der neuen
Wahrnehmung Abbruch thun kann: alsdann gilt das zu-
vor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, daſs die
zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträcht-
liche Stärke des Vorstellens durch die jetzige Wahrneh-
mung zu erzeugen vermag. Es geschehe nun wirklich
also; und nicht bloſs einmal, sondern vielemal wieder-
hohlt: so werden bey jedem künftigen Eintreten einer
neuen, gleichartigen Wahrnehmung, sich alle jene ein-
zelnen, zuvor gebildeten Vorstellungen durch eigne Kraft,
und zum Theil verstärkt durch ihre Verbindungen unter
einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf
diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird,
und wodurch die, zwar vollständig erneuerte, Empfäng-
lichkeit doch immer schneller vermindert, ja endlich, bey
sehr häufiger Wiederhohlung der nämlichen Wahrneh-
mung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf ei-
nen äuſserst geringen Grad kann herabgebracht werden.
In diesem Falle befinden wir uns mit den Dingen, die
wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb keinen
merklichen Eindruck auf uns machen.

Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von
selbst, daſs unmöglich die einzelnen, aus den wieder-
hohlten Wahrnehmungen gewonnenen, Vorstellungen,
sich ins Bewuſstseyn hoch erheben können. Denn die
Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äu-
ſsersten Grad übersteigen, in welchem die volle und ganze
Selbsterhaltung dieser Art bestehen würde. Desto grö-
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[348/0368] die erneuerte Empfänglichkeit schnell und beträchtlich leidet. Aber nicht bloſs diese Nebenumstände, sondern ein allgemeiner Grund bewirkt eine Abänderung in dem, was zuvor über den geringen Verlust der erneuerten Empfäng- lichkeit bemerkt wurde. Freylich, wenn nur Eine ältere, gleichartige Vorstel- lung in der Seele ruhet, deren Erwachen der neuen Wahrnehmung Abbruch thun kann: alsdann gilt das zu- vor Gesagte; und es ist leicht zu übersehen, daſs die zwar verminderte Empfänglichkeit dennoch eine beträcht- liche Stärke des Vorstellens durch die jetzige Wahrneh- mung zu erzeugen vermag. Es geschehe nun wirklich also; und nicht bloſs einmal, sondern vielemal wieder- hohlt: so werden bey jedem künftigen Eintreten einer neuen, gleichartigen Wahrnehmung, sich alle jene ein- zelnen, zuvor gebildeten Vorstellungen durch eigne Kraft, und zum Theil verstärkt durch ihre Verbindungen unter einander, zumal hervorheben. Offenbar bilden sie auf diese Weise eine Summe, die immer beträchtlicher wird, und wodurch die, zwar vollständig erneuerte, Empfäng- lichkeit doch immer schneller vermindert, ja endlich, bey sehr häufiger Wiederhohlung der nämlichen Wahrneh- mung, beynahe plötzlich von ihrer ersten Stärke auf ei- nen äuſserst geringen Grad kann herabgebracht werden. In diesem Falle befinden wir uns mit den Dingen, die wir täglich um uns sehn, und die eben deshalb keinen merklichen Eindruck auf uns machen. Unter solchen Umständen ergiebt sich dann von selbst, daſs unmöglich die einzelnen, aus den wieder- hohlten Wahrnehmungen gewonnenen, Vorstellungen, sich ins Bewuſstseyn hoch erheben können. Denn die Summe des wirklichen Vorstellens kann nicht jenen äu- ſsersten Grad übersteigen, in welchem die volle und ganze Selbsterhaltung dieser Art bestehen würde. Desto grö- ſser und anhaltender aber kann die Anstrengung seyn,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/368>, abgerufen am 25.04.2024.