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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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jenes bekannte Sophisma, nach welchem die Existenz
eine der göttlichen Vollkommenheiten seyn soll; dieses
rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die grosse
Frage: woher kommt die Erhebung meines Gei-
stes zu solchen Gedanken, deren Gegenstand
in der Erfahrung nicht angetroffen wird
? -- ihn
dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen Ursprung der-
selben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebor-
nen Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch,
sondern unvermeidlich für den, welcher nicht schon alles
dasjenige weiss, was ich in diesem Buche erst vorzutra-
gen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den notis in
programma quoddam in Belgio editum), mentem indigere
ideis innatis, quae sint aliquid diversum ab eius facultate
cogitandi: sed cum adverterem, quasdam in me esse cogita-
tiones, quae non ab obiectis externis, nec a voluntatis meae
determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate,
illas innatas vocavi; eodem sensu, quo dicimus, generosita-
tem esse quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam
morbos: non quod istarum familiarum infantes morbis istis
in utero matris laborent, sed quod nascantur cum quadam
dispositione
sive facultate ad illos contrahendos
.

Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, muss
man jedoch bey Des-Cartes eben so wenig, als bey
so vielen Späteren, suchen. Auch liegen bey ihm zu
viele metaphysische Irrthümer im Wege, als dass er die
wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das
kann ihm zum Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre
heutigen Anthropologen zuerst an ihm tadeln würden, dass
er die Seele zu weit vom Körper trenne: denn von der
engen Verbindung beyder war er so überzeugt, dass er
sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint,
die Verbesserung des Menschengeschlechts
müsse in der Medicin gesucht werden
*). Eben
so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre -- der Punct,

*) In der dissertatione de methodo, gegen das Ende.

jenes bekannte Sophisma, nach welchem die Existenz
eine der göttlichen Vollkommenheiten seyn soll; dieses
rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die groſse
Frage: woher kommt die Erhebung meines Gei-
stes zu solchen Gedanken, deren Gegenstand
in der Erfahrung nicht angetroffen wird
? — ihn
dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen Ursprung der-
selben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebor-
nen Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch,
sondern unvermeidlich für den, welcher nicht schon alles
dasjenige weiſs, was ich in diesem Buche erst vorzutra-
gen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den notis in
programma quoddam in Belgio editum), mentem indigere
ideis innatis, quae sint aliquid diversum ab eius facultate
cogitandi: sed cum adverterem, quasdam in me esse cogita-
tiones, quae non ab obiectis externis, nec a voluntatis meae
determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate,
illas innatas vocavi; eodem sensu, quo dicimus, generosita-
tem esse quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam
morbos: non quod istarum familiarum infantes morbis istis
in utero matris laborent, sed quod nascantur cum quadam
dispositione
sive facultate ad illos contrahendos
.

Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, muſs
man jedoch bey Des-Cartes eben so wenig, als bey
so vielen Späteren, suchen. Auch liegen bey ihm zu
viele metaphysische Irrthümer im Wege, als daſs er die
wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das
kann ihm zum Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre
heutigen Anthropologen zuerst an ihm tadeln würden, daſs
er die Seele zu weit vom Körper trenne: denn von der
engen Verbindung beyder war er so überzeugt, daſs er
sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint,
die Verbesserung des Menschengeschlechts
müsse in der Medicin gesucht werden
*). Eben
so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre — der Punct,

*) In der dissertatione de methodo, gegen das Ende.
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[45/0065] jenes bekannte Sophisma, nach welchem die Existenz eine der göttlichen Vollkommenheiten seyn soll; dieses rief er freylich zu Hülfe; allein erst, nachdem die groſse Frage: woher kommt die Erhebung meines Gei- stes zu solchen Gedanken, deren Gegenstand in der Erfahrung nicht angetroffen wird? — ihn dahin gedrängt hatte, den übersinnlichen Ursprung der- selben in Gott zu suchen. Seine Lehre von den angebor- nen Ideen ist übrigens nicht im mindesten schwärmerisch, sondern unvermeidlich für den, welcher nicht schon alles dasjenige weiſs, was ich in diesem Buche erst vorzutra- gen gedenke; nunquam iudicavi, sagt er (in den notis in programma quoddam in Belgio editum), mentem indigere ideis innatis, quae sint aliquid diversum ab eius facultate cogitandi: sed cum adverterem, quasdam in me esse cogita- tiones, quae non ab obiectis externis, nec a voluntatis meae determinatione procedebant, sed a sola cogitandi facultate, illas innatas vocavi; eodem sensu, quo dicimus, generosita- tem esse quibusdam familiis innatam, aliis vero quosdam morbos: non quod istarum familiarum infantes morbis istis in utero matris laborent, sed quod nascantur cum quadam dispositione sive facultate ad illos contrahendos. Eine eigentliche Untersuchung über das Ich, muſs man jedoch bey Des-Cartes eben so wenig, als bey so vielen Späteren, suchen. Auch liegen bey ihm zu viele metaphysische Irrthümer im Wege, als daſs er die wahre Psychologie hätte finden können. Zwar nicht das kann ihm zum Vorwurf gereichen, was vermuthlich unsre heutigen Anthropologen zuerst an ihm tadeln würden, daſs er die Seele zu weit vom Körper trenne: denn von der engen Verbindung beyder war er so überzeugt, daſs er sogar, auf der entgegengesetzten Seite übertreibend, meint, die Verbesserung des Menschengeschlechts müsse in der Medicin gesucht werden *). Eben so wenig hat ihn eine falsche Freyheitslehre — der Punct, *) In der dissertatione de methodo, gegen das Ende.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/65>, abgerufen am 29.03.2024.