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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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§. 104.

Wir gehn nunmehr an das Geschäfft, die Gefühle
und Begehrungen in dem Kreise des Bewusstseyns auf-
zusuchen; das heisst, in der Mitte desjenigen Vorstellens,
was in jedem Augenblicke von der schon geschehenen
Hemmung noch übrig ist. Eine negative Bestimmung
muss vorausgehn, um die Gränzen abzustecken, inner-
halb welcher man die positiven zu suchen hat.

Die Zustände des Vorstellens, Begehrens und Füh-
lens, sind sämmtlich Zustände des Bewusstseyns;
folglich kann ihre unmittelbare Erklärung nicht
liegen in demjenigen, was die Statik und Me-
chanik von Vorstellungen lehrt, sofern sie sich
nicht im Bewusstseyn befinden
.

Dahin nun gehört zuvörderst alles dasjenige, was
wir oben ein Streben vorzustellen genannt haben.
Wenn demnach im gemeinen Leben, oder auch wohl in
philosophischen Untersuchungen, von Bestrebungen
gesprochen wird, deren man sich bewusst sey, so
sind diese niemals geradezu selbst jenes Streben vorzu-
stellen, wenn sie schon darin ihre nächste Ursache fin-
den können. Das wirkliche Streben vorzustellen, ist, wie
wir längst wissen, nur in so fern vorhanden, als die
Vorstellungen nicht wirklich von Statten gehn, als ihr
Object verdunkelt ist, oder mit andern Worten, als sie
aus dem Bewusstseyn verdrängt sind, und folglich nicht
mehr im Kreise der innern Wahrnehmung liegen. Hin-
gegen die Bestrebungen deren man sich bewusst ist, kön-
nen überall nicht unmittelbar für wirkliche Bestrebungen
gelten; sie sind Phänomene, über deren Realität erst
ihre Erklärung den Ausspruch thun muss.

Manche Philosophen stehn in dem Wahne, der ei-
gentlich reale Begriff der Kraft komme uns im Selbst-

handlung psychologischer Gegenstände so schlecht gelingt. Sie kleben
immerfort am Räumlichen; Uebersinnliches, und genaues Denken,
sind ihnen entgegengesetzte Pole.
§. 104.

Wir gehn nunmehr an das Geschäfft, die Gefühle
und Begehrungen in dem Kreise des Bewuſstseyns auf-
zusuchen; das heiſst, in der Mitte desjenigen Vorstellens,
was in jedem Augenblicke von der schon geschehenen
Hemmung noch übrig ist. Eine negative Bestimmung
muſs vorausgehn, um die Gränzen abzustecken, inner-
halb welcher man die positiven zu suchen hat.

Die Zustände des Vorstellens, Begehrens und Füh-
lens, sind sämmtlich Zustände des Bewuſstseyns;
folglich kann ihre unmittelbare Erklärung nicht
liegen in demjenigen, was die Statik und Me-
chanik von Vorstellungen lehrt, sofern sie sich
nicht im Bewuſstseyn befinden
.

Dahin nun gehört zuvörderst alles dasjenige, was
wir oben ein Streben vorzustellen genannt haben.
Wenn demnach im gemeinen Leben, oder auch wohl in
philosophischen Untersuchungen, von Bestrebungen
gesprochen wird, deren man sich bewuſst sey, so
sind diese niemals geradezu selbst jenes Streben vorzu-
stellen, wenn sie schon darin ihre nächste Ursache fin-
den können. Das wirkliche Streben vorzustellen, ist, wie
wir längst wissen, nur in so fern vorhanden, als die
Vorstellungen nicht wirklich von Statten gehn, als ihr
Object verdunkelt ist, oder mit andern Worten, als sie
aus dem Bewuſstseyn verdrängt sind, und folglich nicht
mehr im Kreise der innern Wahrnehmung liegen. Hin-
gegen die Bestrebungen deren man sich bewuſst ist, kön-
nen überall nicht unmittelbar für wirkliche Bestrebungen
gelten; sie sind Phänomene, über deren Realität erst
ihre Erklärung den Ausspruch thun muſs.

Manche Philosophen stehn in dem Wahne, der ei-
gentlich reale Begriff der Kraft komme uns im Selbst-

handlung psychologischer Gegenstände so schlecht gelingt. Sie kleben
immerfort am Räumlichen; Uebersinnliches, und genaues Denken,
sind ihnen entgegengesetzte Pole.
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[69/0104] §. 104. Wir gehn nunmehr an das Geschäfft, die Gefühle und Begehrungen in dem Kreise des Bewuſstseyns auf- zusuchen; das heiſst, in der Mitte desjenigen Vorstellens, was in jedem Augenblicke von der schon geschehenen Hemmung noch übrig ist. Eine negative Bestimmung muſs vorausgehn, um die Gränzen abzustecken, inner- halb welcher man die positiven zu suchen hat. Die Zustände des Vorstellens, Begehrens und Füh- lens, sind sämmtlich Zustände des Bewuſstseyns; folglich kann ihre unmittelbare Erklärung nicht liegen in demjenigen, was die Statik und Me- chanik von Vorstellungen lehrt, sofern sie sich nicht im Bewuſstseyn befinden. Dahin nun gehört zuvörderst alles dasjenige, was wir oben ein Streben vorzustellen genannt haben. Wenn demnach im gemeinen Leben, oder auch wohl in philosophischen Untersuchungen, von Bestrebungen gesprochen wird, deren man sich bewuſst sey, so sind diese niemals geradezu selbst jenes Streben vorzu- stellen, wenn sie schon darin ihre nächste Ursache fin- den können. Das wirkliche Streben vorzustellen, ist, wie wir längst wissen, nur in so fern vorhanden, als die Vorstellungen nicht wirklich von Statten gehn, als ihr Object verdunkelt ist, oder mit andern Worten, als sie aus dem Bewuſstseyn verdrängt sind, und folglich nicht mehr im Kreise der innern Wahrnehmung liegen. Hin- gegen die Bestrebungen deren man sich bewuſst ist, kön- nen überall nicht unmittelbar für wirkliche Bestrebungen gelten; sie sind Phänomene, über deren Realität erst ihre Erklärung den Ausspruch thun muſs. Manche Philosophen stehn in dem Wahne, der ei- gentlich reale Begriff der Kraft komme uns im Selbst- *) *) handlung psychologischer Gegenstände so schlecht gelingt. Sie kleben immerfort am Räumlichen; Uebersinnliches, und genaues Denken, sind ihnen entgegengesetzte Pole.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/104>, abgerufen am 19.03.2024.