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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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alle unsere Vorstellungen;) die zweyte allgemein-meta-
physische, die wahren Wesen, welche von uns abhängig
existiren, sind wirklich auf räumliche Weise ausser uns,
und ausser einander; die wahren Begebenheiten, welche
theils ausser uns, theils in uns vorgehen, sind wirklich
zeitliche Begebenheiten, und das Zeitliche ist keineswe-
ges eine bloss menschliche, sondern in der wahren Er-
kenntniss eines jeden Vernunftwesens unentbehrliche Vor-
stellungsart. -- Ich behaupte mit Leibnitz den letztern,
metaphysischen Satz; ich behaupte wider Leibnitz
und Kant
das Gegentheil jenes erstern, psychologischen
Satzes; ich werde über meine psychologische Behaup-
tung hier Rechenschaft ablegen, während mich der allge-
mein metaphysische Satz, über den ich anderwärts ge-
sprochen *), hier gar nichts angeht.

Dennoch wird es im Anfange meiner Entwickelung
scheinen, als müsse ich mit Leibnitz und Kant gerade
in dem Puncte zusammenstimmen, worin ich ihnen bey-
den widerspreche. Der Leser aber wird mich am leich-
testen verstehn, wenn er es über sich erhalten kann, we-
der an Leibnitz noch an Kant zu denken, sondern
lediglich dem Faden meiner Untersuchung zu folgen.

§. 110.

Schon im §. 103. wird aufmerksam gemacht auf die
vollkommne Intensität alles unseres Vorstellens, wegen
der völligen Einheit und Einfachheit der Seele. Alle
Unterschiede des Rechts und Links, Oben und Unten,
die in unserem Vorgestellten vorkommen, verschwin-
den gänzlich, sobald von dem Actus des Vorstellens
selbst die Rede ist. Oder vielmehr -- da doch das Vor-
stellen dem Vorgestellten vorauszusetzen ist, -- sie sind
in dem Vorstellen noch gar nicht vorhanden; dieses ruhet
in dem Einen und untheilbaren Schoosse der Seele; und
es bleibt auch in demselben; es kann gar nicht aus

*) In den Hauptpuncten der Metaphysik, und in der Abhand-
lung de attractione elementorum.

alle unsere Vorstellungen;) die zweyte allgemein-meta-
physische, die wahren Wesen, welche von uns abhängig
existiren, sind wirklich auf räumliche Weise auſser uns,
und auſser einander; die wahren Begebenheiten, welche
theils auſser uns, theils in uns vorgehen, sind wirklich
zeitliche Begebenheiten, und das Zeitliche ist keineswe-
ges eine bloſs menschliche, sondern in der wahren Er-
kenntniſs eines jeden Vernunftwesens unentbehrliche Vor-
stellungsart. — Ich behaupte mit Leibnitz den letztern,
metaphysischen Satz; ich behaupte wider Leibnitz
und Kant
das Gegentheil jenes erstern, psychologischen
Satzes; ich werde über meine psychologische Behaup-
tung hier Rechenschaft ablegen, während mich der allge-
mein metaphysische Satz, über den ich anderwärts ge-
sprochen *), hier gar nichts angeht.

Dennoch wird es im Anfange meiner Entwickelung
scheinen, als müsse ich mit Leibnitz und Kant gerade
in dem Puncte zusammenstimmen, worin ich ihnen bey-
den widerspreche. Der Leser aber wird mich am leich-
testen verstehn, wenn er es über sich erhalten kann, we-
der an Leibnitz noch an Kant zu denken, sondern
lediglich dem Faden meiner Untersuchung zu folgen.

§. 110.

Schon im §. 103. wird aufmerksam gemacht auf die
vollkommne Intensität alles unseres Vorstellens, wegen
der völligen Einheit und Einfachheit der Seele. Alle
Unterschiede des Rechts und Links, Oben und Unten,
die in unserem Vorgestellten vorkommen, verschwin-
den gänzlich, sobald von dem Actus des Vorstellens
selbst die Rede ist. Oder vielmehr — da doch das Vor-
stellen dem Vorgestellten vorauszusetzen ist, — sie sind
in dem Vorstellen noch gar nicht vorhanden; dieses ruhet
in dem Einen und untheilbaren Schooſse der Seele; und
es bleibt auch in demselben; es kann gar nicht aus

*) In den Hauptpuncten der Metaphysik, und in der Abhand-
lung de attractione elementorum.
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[123/0158] alle unsere Vorstellungen;) die zweyte allgemein-meta- physische, die wahren Wesen, welche von uns abhängig existiren, sind wirklich auf räumliche Weise auſser uns, und auſser einander; die wahren Begebenheiten, welche theils auſser uns, theils in uns vorgehen, sind wirklich zeitliche Begebenheiten, und das Zeitliche ist keineswe- ges eine bloſs menschliche, sondern in der wahren Er- kenntniſs eines jeden Vernunftwesens unentbehrliche Vor- stellungsart. — Ich behaupte mit Leibnitz den letztern, metaphysischen Satz; ich behaupte wider Leibnitz und Kant das Gegentheil jenes erstern, psychologischen Satzes; ich werde über meine psychologische Behaup- tung hier Rechenschaft ablegen, während mich der allge- mein metaphysische Satz, über den ich anderwärts ge- sprochen *), hier gar nichts angeht. Dennoch wird es im Anfange meiner Entwickelung scheinen, als müsse ich mit Leibnitz und Kant gerade in dem Puncte zusammenstimmen, worin ich ihnen bey- den widerspreche. Der Leser aber wird mich am leich- testen verstehn, wenn er es über sich erhalten kann, we- der an Leibnitz noch an Kant zu denken, sondern lediglich dem Faden meiner Untersuchung zu folgen. §. 110. Schon im §. 103. wird aufmerksam gemacht auf die vollkommne Intensität alles unseres Vorstellens, wegen der völligen Einheit und Einfachheit der Seele. Alle Unterschiede des Rechts und Links, Oben und Unten, die in unserem Vorgestellten vorkommen, verschwin- den gänzlich, sobald von dem Actus des Vorstellens selbst die Rede ist. Oder vielmehr — da doch das Vor- stellen dem Vorgestellten vorauszusetzen ist, — sie sind in dem Vorstellen noch gar nicht vorhanden; dieses ruhet in dem Einen und untheilbaren Schooſse der Seele; und es bleibt auch in demselben; es kann gar nicht aus *) In den Hauptpuncten der Metaphysik, und in der Abhand- lung de attractione elementorum.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/158>, abgerufen am 19.03.2024.