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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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warum ein Wahrgenommenes so, ein anderes anders
geformt
erscheine.

In die unabsehliche Weite dieser Untersuchungen
mich zu verlieren, kann hier nicht meine Absicht seyn;
nur etwas weniges werde ich hinzufügen, um die Gründe
und das daraus zu Erklärende näher zusammen zu rücken.

§. 112.

Die Reproductionsgesetze, worauf hier alles beruht,
lassen sich zwar bey gehöriger Vergleichung unserer An-
nahme mit den angeführten Sätzen aus den Grundlinien
der Mechanik des Geistes, deutlich genug erkennen.
Leichter fasslich aber lässt sich der ganze Gegenstand
machen, wenn wir eine minder verwickelte Frage, deren
Beantwortung zwar schon im §. 100. gegeben worden,
uns hier noch einmal vergegenwärtigen.

Es ist bekannt, dass eine Reihe von Wahrnehmun-
gen nicht bloss in Hinsicht der Materie des Gegebenen
(der einzelnen sinnlichen Empfindungen), sondern auch
als Reihe, als bestimmt geordnete Folge, vom Ge-
dächtnisse
aufbehalten wird. So beruhen die Worte
nicht bloss auf Sprachlauten, sondern auf bestimmten Fol-
gen von Sprachlauten; als solche werden sie behalten
und verstanden, keinesweges aber verwechselt mit den
mancherley Anagrammen, die man daraus machen kann.

Wie geht es nun zu, -- wie ist es nur denkbar,
dass dergleichen Reihenfolgen gemerkt und reproducirt
werden? Nachdem die Total-Auffassung der gegebenen
Reihe von Wahrnehmungen geendigt ist: machen alle
dazu gehörige Partial-Vorstellungen ein intensives Eins.
Und in dieses Intensive würde gerade dasselbe hineinge-
kommen seyn, wenn in einer andern Folge die nämli-
chen und gleich starken Wahrnehmungen wären gege-
ben worden. Auch alsdann wären alle die nämlichen
Vorstellungen in der Seele gewesen, geblieben, aufbe-
halten; auch alle mit allen verbunden; was unterscheidet
denn noch jetzt, nachdem die Wahrnehmung sammt der
ihr eigenthümlichen Succession vorbey ist, den davon

warum ein Wahrgenommenes so, ein anderes anders
geformt
erscheine.

In die unabsehliche Weite dieser Untersuchungen
mich zu verlieren, kann hier nicht meine Absicht seyn;
nur etwas weniges werde ich hinzufügen, um die Gründe
und das daraus zu Erklärende näher zusammen zu rücken.

§. 112.

Die Reproductionsgesetze, worauf hier alles beruht,
lassen sich zwar bey gehöriger Vergleichung unserer An-
nahme mit den angeführten Sätzen aus den Grundlinien
der Mechanik des Geistes, deutlich genug erkennen.
Leichter faſslich aber läſst sich der ganze Gegenstand
machen, wenn wir eine minder verwickelte Frage, deren
Beantwortung zwar schon im §. 100. gegeben worden,
uns hier noch einmal vergegenwärtigen.

Es ist bekannt, daſs eine Reihe von Wahrnehmun-
gen nicht bloſs in Hinsicht der Materie des Gegebenen
(der einzelnen sinnlichen Empfindungen), sondern auch
als Reihe, als bestimmt geordnete Folge, vom Ge-
dächtnisse
aufbehalten wird. So beruhen die Worte
nicht bloſs auf Sprachlauten, sondern auf bestimmten Fol-
gen von Sprachlauten; als solche werden sie behalten
und verstanden, keinesweges aber verwechselt mit den
mancherley Anagrammen, die man daraus machen kann.

Wie geht es nun zu, — wie ist es nur denkbar,
daſs dergleichen Reihenfolgen gemerkt und reproducirt
werden? Nachdem die Total-Auffassung der gegebenen
Reihe von Wahrnehmungen geendigt ist: machen alle
dazu gehörige Partial-Vorstellungen ein intensives Eins.
Und in dieses Intensive würde gerade dasselbe hineinge-
kommen seyn, wenn in einer andern Folge die nämli-
chen und gleich starken Wahrnehmungen wären gege-
ben worden. Auch alsdann wären alle die nämlichen
Vorstellungen in der Seele gewesen, geblieben, aufbe-
halten; auch alle mit allen verbunden; was unterscheidet
denn noch jetzt, nachdem die Wahrnehmung sammt der
ihr eigenthümlichen Succession vorbey ist, den davon

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[130/0165] warum ein Wahrgenommenes so, ein anderes anders geformt erscheine. In die unabsehliche Weite dieser Untersuchungen mich zu verlieren, kann hier nicht meine Absicht seyn; nur etwas weniges werde ich hinzufügen, um die Gründe und das daraus zu Erklärende näher zusammen zu rücken. §. 112. Die Reproductionsgesetze, worauf hier alles beruht, lassen sich zwar bey gehöriger Vergleichung unserer An- nahme mit den angeführten Sätzen aus den Grundlinien der Mechanik des Geistes, deutlich genug erkennen. Leichter faſslich aber läſst sich der ganze Gegenstand machen, wenn wir eine minder verwickelte Frage, deren Beantwortung zwar schon im §. 100. gegeben worden, uns hier noch einmal vergegenwärtigen. Es ist bekannt, daſs eine Reihe von Wahrnehmun- gen nicht bloſs in Hinsicht der Materie des Gegebenen (der einzelnen sinnlichen Empfindungen), sondern auch als Reihe, als bestimmt geordnete Folge, vom Ge- dächtnisse aufbehalten wird. So beruhen die Worte nicht bloſs auf Sprachlauten, sondern auf bestimmten Fol- gen von Sprachlauten; als solche werden sie behalten und verstanden, keinesweges aber verwechselt mit den mancherley Anagrammen, die man daraus machen kann. Wie geht es nun zu, — wie ist es nur denkbar, daſs dergleichen Reihenfolgen gemerkt und reproducirt werden? Nachdem die Total-Auffassung der gegebenen Reihe von Wahrnehmungen geendigt ist: machen alle dazu gehörige Partial-Vorstellungen ein intensives Eins. Und in dieses Intensive würde gerade dasselbe hineinge- kommen seyn, wenn in einer andern Folge die nämli- chen und gleich starken Wahrnehmungen wären gege- ben worden. Auch alsdann wären alle die nämlichen Vorstellungen in der Seele gewesen, geblieben, aufbe- halten; auch alle mit allen verbunden; was unterscheidet denn noch jetzt, nachdem die Wahrnehmung sammt der ihr eigenthümlichen Succession vorbey ist, den davon

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/165>, abgerufen am 19.03.2024.