Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

Stellungen, mit verschiedener Miene und Kleidung, an
verschiedenen Orten gesehen. Wir sehn ihn noch ein-
mal, -- oder nur sein Name wird genannt; -- die To-
tal-Vorstellung
von diesem Menschen, welche nun
hervortritt, ist der Begriff desselben; wohl unterschie-
den von dem Bilde oder der Einbildung, welche wird
hervorgerufen werden, sobald durch Angabe gewisser
Zeit-Umstände an eine bestimmte Situation erinnert
wird, in der wir den nämlichen Menschen irgend ein
mal
gesehen haben. Denn in solchem Falle reproducirt
sich die damals gewonnene Vorstellung in vorzüglicher
Stärke mit allem ihrem Beywesen; und nun sehen wir
den Menschen gerade in der Kleidung, mit der Miene
und Gebehrde, worin er sich eben damals darstellte. --
Eigentlich sollte der Begriff dieses Individuums ganz frey
seyn von den Zufälligkeiten, deren schwache Beymischung
auch der vorhin erwähnten Total-Vorstellung immer noch
anhängt. Man sieht leicht ein, dass es dahin nicht eher
kommen kann, als wenn eine Handlung des Entgegen-
setzens vorgeht, welche die Zufälligkeiten ausdrück-
lich für etwas abzusonderndes erklärt. Allein die Mög-
lichkeit einer solchen Handlung liegt für jetzt noch fern.
Sie setzt voraus, dass eine höhere Reflexion die eigne
Vorstellung zu ihrem Vorgestellten mache, und sie als
solche bearbeite.

§. 122.

Ganz analog dem ersten Entstehen der individuellen
Begriffe ist das der allgemeinen. Eine Menge ähnlicher
Gegenstände wird wahrgenommen. Die daraus entsprun-
genen Vorstellungen schmelzen zusammen; nach gegen-
seitiger Hemmung durch die widerstreitenden Bestimmun-
gen. Das Gleichartige erlangt in der Total-Vorstellung
ein bedeutendes Uebergewicht über dem Verschieden-
artigen.

Hiebey ist jedoch zu bemerken, dass die Merkmale,
durch welche ein einzelner Gegenstand wahrgenommen
wird, meistens eine vollkommene Complexion bilden

Stellungen, mit verschiedener Miene und Kleidung, an
verschiedenen Orten gesehen. Wir sehn ihn noch ein-
mal, — oder nur sein Name wird genannt; — die To-
tal-Vorstellung
von diesem Menschen, welche nun
hervortritt, ist der Begriff desselben; wohl unterschie-
den von dem Bilde oder der Einbildung, welche wird
hervorgerufen werden, sobald durch Angabe gewisser
Zeit-Umstände an eine bestimmte Situation erinnert
wird, in der wir den nämlichen Menschen irgend ein
mal
gesehen haben. Denn in solchem Falle reproducirt
sich die damals gewonnene Vorstellung in vorzüglicher
Stärke mit allem ihrem Beywesen; und nun sehen wir
den Menschen gerade in der Kleidung, mit der Miene
und Gebehrde, worin er sich eben damals darstellte. —
Eigentlich sollte der Begriff dieses Individuums ganz frey
seyn von den Zufälligkeiten, deren schwache Beymischung
auch der vorhin erwähnten Total-Vorstellung immer noch
anhängt. Man sieht leicht ein, daſs es dahin nicht eher
kommen kann, als wenn eine Handlung des Entgegen-
setzens vorgeht, welche die Zufälligkeiten ausdrück-
lich für etwas abzusonderndes erklärt. Allein die Mög-
lichkeit einer solchen Handlung liegt für jetzt noch fern.
Sie setzt voraus, daſs eine höhere Reflexion die eigne
Vorstellung zu ihrem Vorgestellten mache, und sie als
solche bearbeite.

§. 122.

Ganz analog dem ersten Entstehen der individuellen
Begriffe ist das der allgemeinen. Eine Menge ähnlicher
Gegenstände wird wahrgenommen. Die daraus entsprun-
genen Vorstellungen schmelzen zusammen; nach gegen-
seitiger Hemmung durch die widerstreitenden Bestimmun-
gen. Das Gleichartige erlangt in der Total-Vorstellung
ein bedeutendes Uebergewicht über dem Verschieden-
artigen.

Hiebey ist jedoch zu bemerken, daſs die Merkmale,
durch welche ein einzelner Gegenstand wahrgenommen
wird, meistens eine vollkommene Complexion bilden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0218" n="183"/>
Stellungen, mit verschiedener Miene und Kleidung, an<lb/>
verschiedenen Orten gesehen. Wir sehn ihn noch ein-<lb/>
mal, &#x2014; oder nur sein Name wird genannt; &#x2014; die <hi rendition="#g">To-<lb/>
tal-Vorstellung</hi> von diesem Menschen, welche nun<lb/>
hervortritt, ist der <hi rendition="#g">Begriff</hi> desselben; wohl unterschie-<lb/>
den von dem Bilde oder der Einbildung, welche wird<lb/>
hervorgerufen werden, sobald durch Angabe gewisser<lb/>
Zeit-Umstände an eine <hi rendition="#g">bestimmte</hi> Situation erinnert<lb/>
wird, in der wir den nämlichen Menschen <hi rendition="#g">irgend ein<lb/>
mal</hi> gesehen haben. Denn in solchem Falle reproducirt<lb/>
sich die <hi rendition="#g">damals</hi> gewonnene Vorstellung in vorzüglicher<lb/>
Stärke mit allem ihrem Beywesen; und nun sehen wir<lb/>
den Menschen gerade in der Kleidung, mit der Miene<lb/>
und Gebehrde, worin er sich eben damals darstellte. &#x2014;<lb/>
Eigentlich sollte der Begriff dieses Individuums ganz frey<lb/>
seyn von den Zufälligkeiten, deren schwache Beymischung<lb/>
auch der vorhin erwähnten Total-Vorstellung immer noch<lb/>
anhängt. Man sieht leicht ein, da&#x017F;s es dahin nicht eher<lb/>
kommen kann, als wenn eine Handlung des Entgegen-<lb/>
setzens vorgeht, welche die Zufälligkeiten ausdrück-<lb/>
lich für etwas abzusonderndes erklärt. Allein die Mög-<lb/>
lichkeit einer solchen Handlung liegt für jetzt noch fern.<lb/>
Sie setzt voraus, da&#x017F;s eine höhere Reflexion die eigne<lb/>
Vorstellung zu ihrem Vorgestellten mache, und sie als<lb/>
solche bearbeite.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 122.</head><lb/>
              <p>Ganz analog dem ersten Entstehen der individuellen<lb/>
Begriffe ist das der allgemeinen. Eine Menge ähnlicher<lb/>
Gegenstände wird wahrgenommen. Die daraus entsprun-<lb/>
genen Vorstellungen schmelzen zusammen; nach gegen-<lb/>
seitiger Hemmung durch die widerstreitenden Bestimmun-<lb/>
gen. Das Gleichartige erlangt in der Total-Vorstellung<lb/>
ein bedeutendes Uebergewicht über dem Verschieden-<lb/>
artigen.</p><lb/>
              <p>Hiebey ist jedoch zu bemerken, da&#x017F;s die Merkmale,<lb/>
durch welche ein einzelner Gegenstand wahrgenommen<lb/>
wird, meistens eine <hi rendition="#g">vollkommene</hi> Complexion bilden<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0218] Stellungen, mit verschiedener Miene und Kleidung, an verschiedenen Orten gesehen. Wir sehn ihn noch ein- mal, — oder nur sein Name wird genannt; — die To- tal-Vorstellung von diesem Menschen, welche nun hervortritt, ist der Begriff desselben; wohl unterschie- den von dem Bilde oder der Einbildung, welche wird hervorgerufen werden, sobald durch Angabe gewisser Zeit-Umstände an eine bestimmte Situation erinnert wird, in der wir den nämlichen Menschen irgend ein mal gesehen haben. Denn in solchem Falle reproducirt sich die damals gewonnene Vorstellung in vorzüglicher Stärke mit allem ihrem Beywesen; und nun sehen wir den Menschen gerade in der Kleidung, mit der Miene und Gebehrde, worin er sich eben damals darstellte. — Eigentlich sollte der Begriff dieses Individuums ganz frey seyn von den Zufälligkeiten, deren schwache Beymischung auch der vorhin erwähnten Total-Vorstellung immer noch anhängt. Man sieht leicht ein, daſs es dahin nicht eher kommen kann, als wenn eine Handlung des Entgegen- setzens vorgeht, welche die Zufälligkeiten ausdrück- lich für etwas abzusonderndes erklärt. Allein die Mög- lichkeit einer solchen Handlung liegt für jetzt noch fern. Sie setzt voraus, daſs eine höhere Reflexion die eigne Vorstellung zu ihrem Vorgestellten mache, und sie als solche bearbeite. §. 122. Ganz analog dem ersten Entstehen der individuellen Begriffe ist das der allgemeinen. Eine Menge ähnlicher Gegenstände wird wahrgenommen. Die daraus entsprun- genen Vorstellungen schmelzen zusammen; nach gegen- seitiger Hemmung durch die widerstreitenden Bestimmun- gen. Das Gleichartige erlangt in der Total-Vorstellung ein bedeutendes Uebergewicht über dem Verschieden- artigen. Hiebey ist jedoch zu bemerken, daſs die Merkmale, durch welche ein einzelner Gegenstand wahrgenommen wird, meistens eine vollkommene Complexion bilden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/218
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/218>, abgerufen am 19.03.2024.