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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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reichen; und schon in dieser brauchen wir den Begriff
der Selbstbestimmung höchst nöthig zur Unterscheidung
des Lebenden vom Todten. Wir sehen einen Körper
in Bewegung. Dazu ist, nach den empirischen Begrif-
fen, worüber die Kategorien herrschen, eine Ursache nö-
thig; (für die Metaphysik würde diese Behauptung, wenn
sie in voller Allgemeinheit ausgesprochen wird, eine arge
Uebereilung seyn; allein das gehört nicht hieher.) Wo
liegt nun diese Ursache? Wächst die Pflanze, und be-
wegt sich das Thier, weil ein äusserer Anstoss geschah?
Wir beobachten; und finden die Antriebe, welche von
aussen kommen, bey weitem nicht genügend, um die Be-
wegungen zu erklären. Also verlegen wir die gesuchte
Ursache in den Gegenstand selbst hinein; wir denken
uns den Keim als antreibend sich selbst zur Entwicke-
lung; das Thier als aufregend sich selbst, um von der
Stelle zu kommen. Hier ist der Begriff der Selbstbe-
stimmung, mit dessen Bejahung wir Leben, mit dessen
Verneinung wir das Todte setzen; so dass er überall zur
Anwendung kommt.

Ueber den psychologischen Mechanismus in der Vor-
stellung der Selbstbestimmung lässt sich noch etwas hin-
zusetzen. Wenn die Complexion a A a, mit welcher eine
Reihe a, b, c, b, a verbunden ist, sich hebt: so ge-
schieht zweyerley zugleich. Die Reihe wird durch a si-
multan, aber abgestuft, rückwärts (von a nach a hin)
gehoben; und zugleich läuft sie successiv von a nach a;
diese Bewegungen müssen in jedem Gliede auf eigne
Weise einander begegnen. Wenn wir einen Cirkel an-
schauen, und auf der Peripherie mit unserm Blicke um-
herlaufen: so schwebt uns zugleich von dem Puncte her,
wo wir ausgingen, auch schon der Theil des Umkreises
dunkel vor, zu dem wir erst kommen sollen; und das
Zusammentreffen geschieht nicht plötzlich im Ausgangs-
puncte, sondern schon vorher allmählig.

§. 135.

Man betrachte nun noch einmal die Complexion von

reichen; und schon in dieser brauchen wir den Begriff
der Selbstbestimmung höchst nöthig zur Unterscheidung
des Lebenden vom Todten. Wir sehen einen Körper
in Bewegung. Dazu ist, nach den empirischen Begrif-
fen, worüber die Kategorien herrschen, eine Ursache nö-
thig; (für die Metaphysik würde diese Behauptung, wenn
sie in voller Allgemeinheit ausgesprochen wird, eine arge
Uebereilung seyn; allein das gehört nicht hieher.) Wo
liegt nun diese Ursache? Wächst die Pflanze, und be-
wegt sich das Thier, weil ein äuſserer Anstoſs geschah?
Wir beobachten; und finden die Antriebe, welche von
auſsen kommen, bey weitem nicht genügend, um die Be-
wegungen zu erklären. Also verlegen wir die gesuchte
Ursache in den Gegenstand selbst hinein; wir denken
uns den Keim als antreibend sich selbst zur Entwicke-
lung; das Thier als aufregend sich selbst, um von der
Stelle zu kommen. Hier ist der Begriff der Selbstbe-
stimmung, mit dessen Bejahung wir Leben, mit dessen
Verneinung wir das Todte setzen; so daſs er überall zur
Anwendung kommt.

Ueber den psychologischen Mechanismus in der Vor-
stellung der Selbstbestimmung läſst sich noch etwas hin-
zusetzen. Wenn die Complexion a A α, mit welcher eine
Reihe a, b, c, β, α verbunden ist, sich hebt: so ge-
schieht zweyerley zugleich. Die Reihe wird durch α si-
multan, aber abgestuft, rückwärts (von α nach a hin)
gehoben; und zugleich läuft sie successiv von a nach α;
diese Bewegungen müssen in jedem Gliede auf eigne
Weise einander begegnen. Wenn wir einen Cirkel an-
schauen, und auf der Peripherie mit unserm Blicke um-
herlaufen: so schwebt uns zugleich von dem Puncte her,
wo wir ausgingen, auch schon der Theil des Umkreises
dunkel vor, zu dem wir erst kommen sollen; und das
Zusammentreffen geschieht nicht plötzlich im Ausgangs-
puncte, sondern schon vorher allmählig.

§. 135.

Man betrachte nun noch einmal die Complexion von

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[271/0306] reichen; und schon in dieser brauchen wir den Begriff der Selbstbestimmung höchst nöthig zur Unterscheidung des Lebenden vom Todten. Wir sehen einen Körper in Bewegung. Dazu ist, nach den empirischen Begrif- fen, worüber die Kategorien herrschen, eine Ursache nö- thig; (für die Metaphysik würde diese Behauptung, wenn sie in voller Allgemeinheit ausgesprochen wird, eine arge Uebereilung seyn; allein das gehört nicht hieher.) Wo liegt nun diese Ursache? Wächst die Pflanze, und be- wegt sich das Thier, weil ein äuſserer Anstoſs geschah? Wir beobachten; und finden die Antriebe, welche von auſsen kommen, bey weitem nicht genügend, um die Be- wegungen zu erklären. Also verlegen wir die gesuchte Ursache in den Gegenstand selbst hinein; wir denken uns den Keim als antreibend sich selbst zur Entwicke- lung; das Thier als aufregend sich selbst, um von der Stelle zu kommen. Hier ist der Begriff der Selbstbe- stimmung, mit dessen Bejahung wir Leben, mit dessen Verneinung wir das Todte setzen; so daſs er überall zur Anwendung kommt. Ueber den psychologischen Mechanismus in der Vor- stellung der Selbstbestimmung läſst sich noch etwas hin- zusetzen. Wenn die Complexion a A α, mit welcher eine Reihe a, b, c, β, α verbunden ist, sich hebt: so ge- schieht zweyerley zugleich. Die Reihe wird durch α si- multan, aber abgestuft, rückwärts (von α nach a hin) gehoben; und zugleich läuft sie successiv von a nach α; diese Bewegungen müssen in jedem Gliede auf eigne Weise einander begegnen. Wenn wir einen Cirkel an- schauen, und auf der Peripherie mit unserm Blicke um- herlaufen: so schwebt uns zugleich von dem Puncte her, wo wir ausgingen, auch schon der Theil des Umkreises dunkel vor, zu dem wir erst kommen sollen; und das Zusammentreffen geschieht nicht plötzlich im Ausgangs- puncte, sondern schon vorher allmählig. §. 135. Man betrachte nun noch einmal die Complexion von

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/306>, abgerufen am 19.03.2024.