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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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für sie den gemeinschaftlichen Anknüpfungspunct dar, es
ist ihr Träger, ihr Substrat. Dies heisst eben so
viel, als: der Begriff der Sache verschwindet; der Be-
griff der Substanz tritt an ihre Stelle. Die Sache
glaubte man zu kennen; die Substanz ist unbekannt.
Wer noch glaubt, zu wissen was der Schnee ist, wenn
er sagt, der Schnee sey weiss, kalt, locker, u. s. w. oder
wer noch meint, die Qualität des Goldes anzugeben,
wenn er es als einen gelben, schweren, dehnbaren, feuer-
beständigen Körper, u. s. w. beschreibt: der denkt noch
das Gold und den Schnee als Sachen, keinesweges als
Substanzen. Erst wenn er merkt, dass diese Dinge nicht
die Summen ihrer Eigenschaften, oder rückwärts, dass
die Summen der Eigenschaften nicht die Dinge selbst
seyn können: dann verwandeln sich für ihn die Dinge in
Substanzen. Daher liegt die Probe davon, dass man
wirklich auf den Begriff der Substanz gekommen sey,
wirklich diesen Begriff erzeugt habe, in nichts anderm,
als in dem Gefühl der Verlegenheit, welche aus der Frage
entstehen muss: was ist nun die Substanz? Klar
wird dieser Begriff erst, indem man den Satz rein aus-
spricht: die Substanz ist gänzlich unbekannt, indem die
Eigenschaften, die ihr anhängen, unmöglich sie selbst
seyn können.

Dass Locke diesen Gedanken bestimmt angiebt, ist
oben bemerkt, (§. 139.). Wenn aber andre Metaphysi-
ker von der Substanz andre Erklärungen geben, so liegt
es nicht daran, dass sie den eben entwickelten Begriff
nicht hätten, sondern dass sie ihn überspringen; indem
sie ihn weiter erklären oder verarbeiten wollen. Und das
ist höchst natürlich. Denn freylich kann die Metaphysik
den Begriff nicht so lassen, wie er zuerst ist erzeugt
worden. Was sie aber aus ihm machen werde? das ist
eine Frage, die in den verschiedenen Systemen eine ver-
schiedene Antwort bekommt, und die nicht hieher gehört.

§. 142.

Indem wir jetzo hinübergehn zu der Untersuchung,

für sie den gemeinschaftlichen Anknüpfungspunct dar, es
ist ihr Träger, ihr Substrat. Dies heiſst eben so
viel, als: der Begriff der Sache verschwindet; der Be-
griff der Substanz tritt an ihre Stelle. Die Sache
glaubte man zu kennen; die Substanz ist unbekannt.
Wer noch glaubt, zu wissen was der Schnee ist, wenn
er sagt, der Schnee sey weiſs, kalt, locker, u. s. w. oder
wer noch meint, die Qualität des Goldes anzugeben,
wenn er es als einen gelben, schweren, dehnbaren, feuer-
beständigen Körper, u. s. w. beschreibt: der denkt noch
das Gold und den Schnee als Sachen, keinesweges als
Substanzen. Erst wenn er merkt, daſs diese Dinge nicht
die Summen ihrer Eigenschaften, oder rückwärts, daſs
die Summen der Eigenschaften nicht die Dinge selbst
seyn können: dann verwandeln sich für ihn die Dinge in
Substanzen. Daher liegt die Probe davon, daſs man
wirklich auf den Begriff der Substanz gekommen sey,
wirklich diesen Begriff erzeugt habe, in nichts anderm,
als in dem Gefühl der Verlegenheit, welche aus der Frage
entstehen muſs: was ist nun die Substanz? Klar
wird dieser Begriff erst, indem man den Satz rein aus-
spricht: die Substanz ist gänzlich unbekannt, indem die
Eigenschaften, die ihr anhängen, unmöglich sie selbst
seyn können.

Daſs Locke diesen Gedanken bestimmt angiebt, ist
oben bemerkt, (§. 139.). Wenn aber andre Metaphysi-
ker von der Substanz andre Erklärungen geben, so liegt
es nicht daran, daſs sie den eben entwickelten Begriff
nicht hätten, sondern daſs sie ihn überspringen; indem
sie ihn weiter erklären oder verarbeiten wollen. Und das
ist höchst natürlich. Denn freylich kann die Metaphysik
den Begriff nicht so lassen, wie er zuerst ist erzeugt
worden. Was sie aber aus ihm machen werde? das ist
eine Frage, die in den verschiedenen Systemen eine ver-
schiedene Antwort bekommt, und die nicht hieher gehört.

§. 142.

Indem wir jetzo hinübergehn zu der Untersuchung,

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[314/0349] für sie den gemeinschaftlichen Anknüpfungspunct dar, es ist ihr Träger, ihr Substrat. Dies heiſst eben so viel, als: der Begriff der Sache verschwindet; der Be- griff der Substanz tritt an ihre Stelle. Die Sache glaubte man zu kennen; die Substanz ist unbekannt. Wer noch glaubt, zu wissen was der Schnee ist, wenn er sagt, der Schnee sey weiſs, kalt, locker, u. s. w. oder wer noch meint, die Qualität des Goldes anzugeben, wenn er es als einen gelben, schweren, dehnbaren, feuer- beständigen Körper, u. s. w. beschreibt: der denkt noch das Gold und den Schnee als Sachen, keinesweges als Substanzen. Erst wenn er merkt, daſs diese Dinge nicht die Summen ihrer Eigenschaften, oder rückwärts, daſs die Summen der Eigenschaften nicht die Dinge selbst seyn können: dann verwandeln sich für ihn die Dinge in Substanzen. Daher liegt die Probe davon, daſs man wirklich auf den Begriff der Substanz gekommen sey, wirklich diesen Begriff erzeugt habe, in nichts anderm, als in dem Gefühl der Verlegenheit, welche aus der Frage entstehen muſs: was ist nun die Substanz? Klar wird dieser Begriff erst, indem man den Satz rein aus- spricht: die Substanz ist gänzlich unbekannt, indem die Eigenschaften, die ihr anhängen, unmöglich sie selbst seyn können. Daſs Locke diesen Gedanken bestimmt angiebt, ist oben bemerkt, (§. 139.). Wenn aber andre Metaphysi- ker von der Substanz andre Erklärungen geben, so liegt es nicht daran, daſs sie den eben entwickelten Begriff nicht hätten, sondern daſs sie ihn überspringen; indem sie ihn weiter erklären oder verarbeiten wollen. Und das ist höchst natürlich. Denn freylich kann die Metaphysik den Begriff nicht so lassen, wie er zuerst ist erzeugt worden. Was sie aber aus ihm machen werde? das ist eine Frage, die in den verschiedenen Systemen eine ver- schiedene Antwort bekommt, und die nicht hieher gehört. §. 142. Indem wir jetzo hinübergehn zu der Untersuchung,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/349>, abgerufen am 19.03.2024.