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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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mal aufzulösen. Wer dies nicht glauben will, oder meine
Metaphysik in diesem Puncte nicht versteht, der kann ja
versuchen, zu der Kantischen, unbewiesenen Behauptung,
das Subject müsse nothwendig wiederum Prädicat
werden, den Beweis nachzuliefern.

Uebrigens ist in Kants Lehre der Zusammenhang
der Gedanken in dieser Gegend sehr lose. Das Wort
Subject, welches nach verschiedenem Sprachgebrauche
bald dem Prädicate, bald dem Objecte gegenüber
steht, und in beyden Fällen einen ganz verschiedenen
Sinn hat, giebt ihm Gelegenheit, der rationalen Psycho-
logie folgenden Trugschluss, -- der, so viel ich weiss,
früher nirgends vorkommt, aufzubürden:
Was nur als Subject gedacht werden kann, existirt
auch nur als Subject; und ist folglich Substanz.
Nun kann ein denkendes Wesen nur als Subject ge-
dacht werden;

Also existirt es nur als solches, d. i. als Substanz.

Alle drey Sätze sind richtig, aber der Schluss ist falsch;
denn der Obersatz redet von der Substanz, d. i. dem
Subjecte, das nie Prädicat werden kann, der Untersatz
hingegen von dem denkenden Wesen als Subject für
mögliche Objecte. Wer könnte von einem solchen
Sophisma getäuscht werden, so lange er seine Gedanken
nicht ganz in die Worte hat versinken lassen?


§. 143.

Ganz ähnlich dem Vorurtheil, das die Causalität an
die Zeit bindet, ist ein anderes, eben so gemeines, nach
welchem alles Reale in den Raum gesetzt wird, und
Nirgendsseyn so viel bedeuten soll als überall nicht seyn.
Doch vom wissenschaftlichen Standpuncte aus erscheint
diese Verwechselung des Seyn mit dem Daseyn noch
befremdender als jene des Wirkens mit dem Anfangen
und Antreiben. Denn nicht bloss der Geometer behan-
delt seinerseits den Raum und die räumlichen Constru-

mal aufzulösen. Wer dies nicht glauben will, oder meine
Metaphysik in diesem Puncte nicht versteht, der kann ja
versuchen, zu der Kantischen, unbewiesenen Behauptung,
das Subject müsse nothwendig wiederum Prädicat
werden, den Beweis nachzuliefern.

Uebrigens ist in Kants Lehre der Zusammenhang
der Gedanken in dieser Gegend sehr lose. Das Wort
Subject, welches nach verschiedenem Sprachgebrauche
bald dem Prädicate, bald dem Objecte gegenüber
steht, und in beyden Fällen einen ganz verschiedenen
Sinn hat, giebt ihm Gelegenheit, der rationalen Psycho-
logie folgenden Trugschluſs, — der, so viel ich weiſs,
früher nirgends vorkommt, aufzubürden:
Was nur als Subject gedacht werden kann, existirt
auch nur als Subject; und ist folglich Substanz.
Nun kann ein denkendes Wesen nur als Subject ge-
dacht werden;

Also existirt es nur als solches, d. i. als Substanz.

Alle drey Sätze sind richtig, aber der Schluſs ist falsch;
denn der Obersatz redet von der Substanz, d. i. dem
Subjecte, das nie Prädicat werden kann, der Untersatz
hingegen von dem denkenden Wesen als Subject für
mögliche Objecte. Wer könnte von einem solchen
Sophisma getäuscht werden, so lange er seine Gedanken
nicht ganz in die Worte hat versinken lassen?


§. 143.

Ganz ähnlich dem Vorurtheil, das die Causalität an
die Zeit bindet, ist ein anderes, eben so gemeines, nach
welchem alles Reale in den Raum gesetzt wird, und
Nirgendsseyn so viel bedeuten soll als überall nicht seyn.
Doch vom wissenschaftlichen Standpuncte aus erscheint
diese Verwechselung des Seyn mit dem Daseyn noch
befremdender als jene des Wirkens mit dem Anfangen
und Antreiben. Denn nicht bloſs der Geometer behan-
delt seinerseits den Raum und die räumlichen Constru-

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[348/0383] mal aufzulösen. Wer dies nicht glauben will, oder meine Metaphysik in diesem Puncte nicht versteht, der kann ja versuchen, zu der Kantischen, unbewiesenen Behauptung, das Subject müsse nothwendig wiederum Prädicat werden, den Beweis nachzuliefern. Uebrigens ist in Kants Lehre der Zusammenhang der Gedanken in dieser Gegend sehr lose. Das Wort Subject, welches nach verschiedenem Sprachgebrauche bald dem Prädicate, bald dem Objecte gegenüber steht, und in beyden Fällen einen ganz verschiedenen Sinn hat, giebt ihm Gelegenheit, der rationalen Psycho- logie folgenden Trugschluſs, — der, so viel ich weiſs, früher nirgends vorkommt, aufzubürden: Was nur als Subject gedacht werden kann, existirt auch nur als Subject; und ist folglich Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen nur als Subject ge- dacht werden; Also existirt es nur als solches, d. i. als Substanz. Alle drey Sätze sind richtig, aber der Schluſs ist falsch; denn der Obersatz redet von der Substanz, d. i. dem Subjecte, das nie Prädicat werden kann, der Untersatz hingegen von dem denkenden Wesen als Subject für mögliche Objecte. Wer könnte von einem solchen Sophisma getäuscht werden, so lange er seine Gedanken nicht ganz in die Worte hat versinken lassen? §. 143. Ganz ähnlich dem Vorurtheil, das die Causalität an die Zeit bindet, ist ein anderes, eben so gemeines, nach welchem alles Reale in den Raum gesetzt wird, und Nirgendsseyn so viel bedeuten soll als überall nicht seyn. Doch vom wissenschaftlichen Standpuncte aus erscheint diese Verwechselung des Seyn mit dem Daseyn noch befremdender als jene des Wirkens mit dem Anfangen und Antreiben. Denn nicht bloſs der Geometer behan- delt seinerseits den Raum und die räumlichen Constru-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/383>, abgerufen am 19.03.2024.