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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Jakobi erinnert, so wenig auch die theoretische Be-
stimmung dieses Glaubens bey Jakobi von Fehlern und
Verwechselungen frey ist. Haben wir nun das Bedingte
für unbedingt, den mittlern Theil des Gebäudes für das
Fundament gehalten, so mag man uns diesen Irrthum
zeigen; wir suchen alsdann eine tiefere Stelle, bis wir
diejenige finden, die an sich vest ist. Aber eine Anti-
thesis, welche das Veste in die Unendlichkeit hinaus ent-
fernt, raubt uns den Boden ganz und gar, und vermengt
Gedankendinge mit dem Realen. Zu sagen, die wahre
Substanz, die erste Bedingung, liege in unendlicher Ent-
fernung, ist völlig gleichbedeutend mit der Behauptung,
alles in Gedanken Erreichbare sey bedingt; und dies
heisst: Alles ist Nichts. Es ist nicht hier mein Amt,
den metaphysischen Begriff des Seyn zu entwickeln, der
sich gar nicht dehnen, strecken, mit Grössen-Begriffen
amalgamiren lässt; aber was von unseren Vorstellun-
gen
des Unendlichen zu halten sey, das wenigstens muss
der Leser, der mir bis hieher folgte, ohne meine Hülfe
sich selber sagen können. Es mag nun wohl Leute ge-
ben, die von demjenigen Unendlichen reden, welches
sie sich, indem sie davon reden, nicht vorstel-
len:
diesen aber gestehe ich meinerseits nicht folgen zu
können.

Anmerkung II.

Zu den auffallendsten Erscheinungen in Kants Ver-
nunftkritik gehört die verschiedene Behandlung des Un-
bedingten
, (im Gegensatze des Bedingten,) und der
Noumene, (im Gegensatze der Phänomene); besonders
der Mangel an Verbindung zwischen den beyden, hieher
gehörigen Theilen des nämlichen Werkes. Obgleich
ich mich hier in die Fragen nach der richtigen Structur
der allgemeinen Metaphysik nicht tief einlassen kann,
vielmehr die Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr in
Anspruch nehmen muss, je kürzer ich mich fasse: so

Jakobi erinnert, so wenig auch die theoretische Be-
stimmung dieses Glaubens bey Jakobi von Fehlern und
Verwechselungen frey ist. Haben wir nun das Bedingte
für unbedingt, den mittlern Theil des Gebäudes für das
Fundament gehalten, so mag man uns diesen Irrthum
zeigen; wir suchen alsdann eine tiefere Stelle, bis wir
diejenige finden, die an sich vest ist. Aber eine Anti-
thesis, welche das Veste in die Unendlichkeit hinaus ent-
fernt, raubt uns den Boden ganz und gar, und vermengt
Gedankendinge mit dem Realen. Zu sagen, die wahre
Substanz, die erste Bedingung, liege in unendlicher Ent-
fernung, ist völlig gleichbedeutend mit der Behauptung,
alles in Gedanken Erreichbare sey bedingt; und dies
heiſst: Alles ist Nichts. Es ist nicht hier mein Amt,
den metaphysischen Begriff des Seyn zu entwickeln, der
sich gar nicht dehnen, strecken, mit Gröſsen-Begriffen
amalgamiren läſst; aber was von unseren Vorstellun-
gen
des Unendlichen zu halten sey, das wenigstens muſs
der Leser, der mir bis hieher folgte, ohne meine Hülfe
sich selber sagen können. Es mag nun wohl Leute ge-
ben, die von demjenigen Unendlichen reden, welches
sie sich, indem sie davon reden, nicht vorstel-
len:
diesen aber gestehe ich meinerseits nicht folgen zu
können.

Anmerkung II.

Zu den auffallendsten Erscheinungen in Kants Ver-
nunftkritik gehört die verschiedene Behandlung des Un-
bedingten
, (im Gegensatze des Bedingten,) und der
Noumene, (im Gegensatze der Phänomene); besonders
der Mangel an Verbindung zwischen den beyden, hieher
gehörigen Theilen des nämlichen Werkes. Obgleich
ich mich hier in die Fragen nach der richtigen Structur
der allgemeinen Metaphysik nicht tief einlassen kann,
vielmehr die Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr in
Anspruch nehmen muſs, je kürzer ich mich fasse: so

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[397/0432] Jakobi erinnert, so wenig auch die theoretische Be- stimmung dieses Glaubens bey Jakobi von Fehlern und Verwechselungen frey ist. Haben wir nun das Bedingte für unbedingt, den mittlern Theil des Gebäudes für das Fundament gehalten, so mag man uns diesen Irrthum zeigen; wir suchen alsdann eine tiefere Stelle, bis wir diejenige finden, die an sich vest ist. Aber eine Anti- thesis, welche das Veste in die Unendlichkeit hinaus ent- fernt, raubt uns den Boden ganz und gar, und vermengt Gedankendinge mit dem Realen. Zu sagen, die wahre Substanz, die erste Bedingung, liege in unendlicher Ent- fernung, ist völlig gleichbedeutend mit der Behauptung, alles in Gedanken Erreichbare sey bedingt; und dies heiſst: Alles ist Nichts. Es ist nicht hier mein Amt, den metaphysischen Begriff des Seyn zu entwickeln, der sich gar nicht dehnen, strecken, mit Gröſsen-Begriffen amalgamiren läſst; aber was von unseren Vorstellun- gen des Unendlichen zu halten sey, das wenigstens muſs der Leser, der mir bis hieher folgte, ohne meine Hülfe sich selber sagen können. Es mag nun wohl Leute ge- ben, die von demjenigen Unendlichen reden, welches sie sich, indem sie davon reden, nicht vorstel- len: diesen aber gestehe ich meinerseits nicht folgen zu können. Anmerkung II. Zu den auffallendsten Erscheinungen in Kants Ver- nunftkritik gehört die verschiedene Behandlung des Un- bedingten, (im Gegensatze des Bedingten,) und der Noumene, (im Gegensatze der Phänomene); besonders der Mangel an Verbindung zwischen den beyden, hieher gehörigen Theilen des nämlichen Werkes. Obgleich ich mich hier in die Fragen nach der richtigen Structur der allgemeinen Metaphysik nicht tief einlassen kann, vielmehr die Aufmerksamkeit des Lesers desto mehr in Anspruch nehmen muſs, je kürzer ich mich fasse: so

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/432>, abgerufen am 19.03.2024.