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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Anmerkung III.

In den letzten beyden Paragraphen habe ich gesucht,
diejenigen Thätigkeiten und Producte psychologisch zu
erklären, welche man vorzugsweise der sogenannten theo-
retischen Vernunft zuzueignen pflegt. Damit nun hier-
aus der Zustand des vernünftigen Menschen, wie wir ihn
in der wirklichen Welt anzutreffen pflegen, begreiflich
werde, muss man nebenbey noch folgendes bedenken:

Erstlich, auch Diejenigen, welche sich von selbst
nicht zu den Vorstellungen des Unendlichen und Unbe-
dingten erheben würden, empfangen in der gebildeten
Gesellschaft irgend einen Unterricht, der sie dahin wei-
set. Daraus entstehn Meinungen, die unaufhörlich zwi-
schen den mehr und minder selbstständig Denkenden um-
hergeworfen, und oftmals durch die Absicht, sie zu lehren
und zu verbreiten, in Form und Materie bestimmt werden.
Mit ihnen verbindet Jeder, wie er eben kann, seine Erfahrun-
gen, seine Vorstellung von Sich, und seine Gefühle; darnach
richtet sich seine Apperception alles dessen, was er ferner
sieht, hört, und selbst bedenkt. -- Je mehr aber in der Ge-
sellschaft die Wichtigkeit der Meinung erkannt wird: desto
mehrere giebt es, die ihr nachstellen und sie zu erobern su-
chen; desto mehr hüten sich die Einzelnen, ihr Meinen hin-
zugeben; desto mehr wächst die eingebildete Selbstständig-
keit des Denkens, und verschwindet die wahre Gelehrig-
keit. Darüber verliert sich das Lehren; an seine Stelle
tritt Geschwätz, das nur begehrt im Strome der Meinung
vorübergehende Strudel hervorzubringen. Und nun giebt
es Perioden der Herstellung des Bessern, mit grossen
Wechseln und Ungleichheiten.

Zweytens, äusserst selten findet sich Einer, der sich
selbst genug beherrscht, um theoretische Untersuchungen
rein zu halten von Rücksichten auf das, was praktisch
wichtig scheint. Daher müssen die allermeisten Lehrmei-
nungen über das Unendliche und Unbedingte, in so fern
sie psychologische Phänomene sind, dem grössten Theile
nach aus Nebenrücksichten erklärt werden; und nur durch

II. C c
Anmerkung III.

In den letzten beyden Paragraphen habe ich gesucht,
diejenigen Thätigkeiten und Producte psychologisch zu
erklären, welche man vorzugsweise der sogenannten theo-
retischen Vernunft zuzueignen pflegt. Damit nun hier-
aus der Zustand des vernünftigen Menschen, wie wir ihn
in der wirklichen Welt anzutreffen pflegen, begreiflich
werde, muſs man nebenbey noch folgendes bedenken:

Erstlich, auch Diejenigen, welche sich von selbst
nicht zu den Vorstellungen des Unendlichen und Unbe-
dingten erheben würden, empfangen in der gebildeten
Gesellschaft irgend einen Unterricht, der sie dahin wei-
set. Daraus entstehn Meinungen, die unaufhörlich zwi-
schen den mehr und minder selbstständig Denkenden um-
hergeworfen, und oftmals durch die Absicht, sie zu lehren
und zu verbreiten, in Form und Materie bestimmt werden.
Mit ihnen verbindet Jeder, wie er eben kann, seine Erfahrun-
gen, seine Vorstellung von Sich, und seine Gefühle; darnach
richtet sich seine Apperception alles dessen, was er ferner
sieht, hört, und selbst bedenkt. — Je mehr aber in der Ge-
sellschaft die Wichtigkeit der Meinung erkannt wird: desto
mehrere giebt es, die ihr nachstellen und sie zu erobern su-
chen; desto mehr hüten sich die Einzelnen, ihr Meinen hin-
zugeben; desto mehr wächst die eingebildete Selbstständig-
keit des Denkens, und verschwindet die wahre Gelehrig-
keit. Darüber verliert sich das Lehren; an seine Stelle
tritt Geschwätz, das nur begehrt im Strome der Meinung
vorübergehende Strudel hervorzubringen. Und nun giebt
es Perioden der Herstellung des Bessern, mit groſsen
Wechseln und Ungleichheiten.

Zweytens, äuſserst selten findet sich Einer, der sich
selbst genug beherrscht, um theoretische Untersuchungen
rein zu halten von Rücksichten auf das, was praktisch
wichtig scheint. Daher müssen die allermeisten Lehrmei-
nungen über das Unendliche und Unbedingte, in so fern
sie psychologische Phänomene sind, dem gröſsten Theile
nach aus Nebenrücksichten erklärt werden; und nur durch

II. C c
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[401/0436] Anmerkung III. In den letzten beyden Paragraphen habe ich gesucht, diejenigen Thätigkeiten und Producte psychologisch zu erklären, welche man vorzugsweise der sogenannten theo- retischen Vernunft zuzueignen pflegt. Damit nun hier- aus der Zustand des vernünftigen Menschen, wie wir ihn in der wirklichen Welt anzutreffen pflegen, begreiflich werde, muſs man nebenbey noch folgendes bedenken: Erstlich, auch Diejenigen, welche sich von selbst nicht zu den Vorstellungen des Unendlichen und Unbe- dingten erheben würden, empfangen in der gebildeten Gesellschaft irgend einen Unterricht, der sie dahin wei- set. Daraus entstehn Meinungen, die unaufhörlich zwi- schen den mehr und minder selbstständig Denkenden um- hergeworfen, und oftmals durch die Absicht, sie zu lehren und zu verbreiten, in Form und Materie bestimmt werden. Mit ihnen verbindet Jeder, wie er eben kann, seine Erfahrun- gen, seine Vorstellung von Sich, und seine Gefühle; darnach richtet sich seine Apperception alles dessen, was er ferner sieht, hört, und selbst bedenkt. — Je mehr aber in der Ge- sellschaft die Wichtigkeit der Meinung erkannt wird: desto mehrere giebt es, die ihr nachstellen und sie zu erobern su- chen; desto mehr hüten sich die Einzelnen, ihr Meinen hin- zugeben; desto mehr wächst die eingebildete Selbstständig- keit des Denkens, und verschwindet die wahre Gelehrig- keit. Darüber verliert sich das Lehren; an seine Stelle tritt Geschwätz, das nur begehrt im Strome der Meinung vorübergehende Strudel hervorzubringen. Und nun giebt es Perioden der Herstellung des Bessern, mit groſsen Wechseln und Ungleichheiten. Zweytens, äuſserst selten findet sich Einer, der sich selbst genug beherrscht, um theoretische Untersuchungen rein zu halten von Rücksichten auf das, was praktisch wichtig scheint. Daher müssen die allermeisten Lehrmei- nungen über das Unendliche und Unbedingte, in so fern sie psychologische Phänomene sind, dem gröſsten Theile nach aus Nebenrücksichten erklärt werden; und nur durch II. C c

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/436>, abgerufen am 19.03.2024.