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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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daraus jene auf ähnliche Weise bestimmen, wie aus der
Statik und Mechanik des Geistes sich die Reizbarkeit des
Geistes für neu hinzukommende Vorstellungen muss fin-
den lassen; nur mit dem Zusatze, dass, nachdem auf sol-
chem Wege die innern Zustände entdeckt wären, hier-
aus nun noch die entsprechenden äusseren Zustände ab-
geleitet, und erst dadurch die Erscheinungen der Reiz-
barkeit erklärt würden.

Dass die Lebenskraft und Reizbarkeit eines organi-
schen Individuums keine strenge Einheit sey, sieht man
schon aus den Versuchen an abgelöseten Theilen leben-
der Körper; und dass die innere Bildung der Elemente
selbst nach ihrer völligen Trennung noch bestehe, zeigt
sich in der vorzüglichen Fähigkeit, assimilirt zu werden,
wodurch die organischen Stoffe zur gedeihlichen Nahrung
für andre, noch lebende Organismen dienen. Die Exi-
stenz der höheren Thiere und Pflanzen beruht bekannt-
lich ganz wesentlich darauf, dass durch niedere Organis-
men jenen die Nahrung bereitet werde.

Ueber alle reale Lebenskraft in den Elementen geht
hinaus die bloss ideale, künstlerische Einheit der leben-
den Wesen; ihre Schönheit und Zweckmässigkeit. Diese
existirt nur für den Beschauer; sie weiset aber denselben
hinauf zu dem höchsten der Künstler, der durch die er-
habenste Weisheit die Bildungsfähigkeit der Elemente
benutzend, ihr zuerst und allein einen Werth ertheilte.
Ohne religiöse Betrachtungen kann die Naturforschung
zwar wohl angefangen, aber nicht vollendet werden; und
die letztere wird zu allen Zeiten die Stütze der Religion
seyn und bleiben, während alles, was auf schwärmeri-
schen innern Anschauungen beruht, sich sammt diesen
Schwärmereyen selbst zum Spielwerk für die wandelbaren
Meinungen hergeben wird.

§. 154.

Zu dem Systeme von den Störungen und Selbster-
haltungen finden die Bedenklichkeiten nicht Statt, um de-
rentwillen Leibnitz den physischen Einfluss leugnend,

daraus jene auf ähnliche Weise bestimmen, wie aus der
Statik und Mechanik des Geistes sich die Reizbarkeit des
Geistes für neu hinzukommende Vorstellungen muſs fin-
den lassen; nur mit dem Zusatze, daſs, nachdem auf sol-
chem Wege die innern Zustände entdeckt wären, hier-
aus nun noch die entsprechenden äuſseren Zustände ab-
geleitet, und erst dadurch die Erscheinungen der Reiz-
barkeit erklärt würden.

Daſs die Lebenskraft und Reizbarkeit eines organi-
schen Individuums keine strenge Einheit sey, sieht man
schon aus den Versuchen an abgelöseten Theilen leben-
der Körper; und daſs die innere Bildung der Elemente
selbst nach ihrer völligen Trennung noch bestehe, zeigt
sich in der vorzüglichen Fähigkeit, assimilirt zu werden,
wodurch die organischen Stoffe zur gedeihlichen Nahrung
für andre, noch lebende Organismen dienen. Die Exi-
stenz der höheren Thiere und Pflanzen beruht bekannt-
lich ganz wesentlich darauf, daſs durch niedere Organis-
men jenen die Nahrung bereitet werde.

Ueber alle reale Lebenskraft in den Elementen geht
hinaus die bloſs ideale, künstlerische Einheit der leben-
den Wesen; ihre Schönheit und Zweckmäſsigkeit. Diese
existirt nur für den Beschauer; sie weiset aber denselben
hinauf zu dem höchsten der Künstler, der durch die er-
habenste Weisheit die Bildungsfähigkeit der Elemente
benutzend, ihr zuerst und allein einen Werth ertheilte.
Ohne religiöse Betrachtungen kann die Naturforschung
zwar wohl angefangen, aber nicht vollendet werden; und
die letztere wird zu allen Zeiten die Stütze der Religion
seyn und bleiben, während alles, was auf schwärmeri-
schen innern Anschauungen beruht, sich sammt diesen
Schwärmereyen selbst zum Spielwerk für die wandelbaren
Meinungen hergeben wird.

§. 154.

Zu dem Systeme von den Störungen und Selbster-
haltungen finden die Bedenklichkeiten nicht Statt, um de-
rentwillen Leibnitz den physischen Einfluſs leugnend,

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[456/0491] daraus jene auf ähnliche Weise bestimmen, wie aus der Statik und Mechanik des Geistes sich die Reizbarkeit des Geistes für neu hinzukommende Vorstellungen muſs fin- den lassen; nur mit dem Zusatze, daſs, nachdem auf sol- chem Wege die innern Zustände entdeckt wären, hier- aus nun noch die entsprechenden äuſseren Zustände ab- geleitet, und erst dadurch die Erscheinungen der Reiz- barkeit erklärt würden. Daſs die Lebenskraft und Reizbarkeit eines organi- schen Individuums keine strenge Einheit sey, sieht man schon aus den Versuchen an abgelöseten Theilen leben- der Körper; und daſs die innere Bildung der Elemente selbst nach ihrer völligen Trennung noch bestehe, zeigt sich in der vorzüglichen Fähigkeit, assimilirt zu werden, wodurch die organischen Stoffe zur gedeihlichen Nahrung für andre, noch lebende Organismen dienen. Die Exi- stenz der höheren Thiere und Pflanzen beruht bekannt- lich ganz wesentlich darauf, daſs durch niedere Organis- men jenen die Nahrung bereitet werde. Ueber alle reale Lebenskraft in den Elementen geht hinaus die bloſs ideale, künstlerische Einheit der leben- den Wesen; ihre Schönheit und Zweckmäſsigkeit. Diese existirt nur für den Beschauer; sie weiset aber denselben hinauf zu dem höchsten der Künstler, der durch die er- habenste Weisheit die Bildungsfähigkeit der Elemente benutzend, ihr zuerst und allein einen Werth ertheilte. Ohne religiöse Betrachtungen kann die Naturforschung zwar wohl angefangen, aber nicht vollendet werden; und die letztere wird zu allen Zeiten die Stütze der Religion seyn und bleiben, während alles, was auf schwärmeri- schen innern Anschauungen beruht, sich sammt diesen Schwärmereyen selbst zum Spielwerk für die wandelbaren Meinungen hergeben wird. §. 154. Zu dem Systeme von den Störungen und Selbster- haltungen finden die Bedenklichkeiten nicht Statt, um de- rentwillen Leibnitz den physischen Einfluſs leugnend,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/491>, abgerufen am 19.03.2024.