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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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trete, als etwas bloss mögliches, was man bewirken würde,
wenn man wollte; ohne gleichwohl die wirkliche Bewe-
gung hervorzubringen, wie jene Complexion es scheine
nothwendig zu machen. Dies Phänomen ist zwar als
Thatsache bekannt und ausser Zweifel; aber es ist ver-
wickelter als jenes. Die Erfahrung zeigt uns dasselbe
immer häufiger bey fortschreitender Ausbildung; da lernt
der Mensch schweigen, er lernt seine Kräfte schonen, er
lernt mit einem Worte sich zurückhalten. Dies ist
eine Wirkung der höheren, appercipirenden Vorstellungs-
massen. Hingegen das Kind realisirt in jedem Augen-
blicke unmittelbar, was ihm einfällt, sein Phantasiren ist
ursprünglich Handeln; gemäss dem Gesetze jener Com-
plexionen, sobald ihre Wirksamkeit nicht durch eine
höhere Thätigkeit gehindert oder gelenkt wird.

Fünftens: auch ein Umstand, der den Physiologen
befremden kann, scheint nach unserer Erklärung nicht
wunderbar. Dieser nämlich, "dass die Seele die Fähig-
"keit besitzt, nach gewissen Richtungen von innen her
"aus zu wirken, ohne dass diese Richtung durch die
"anatomische Verbindung der Nerven bestimmt würde"*).
Das vermittelnde Gefühl nämlich leistet immer die glei-
chen Dienste, es mag nun mit den Affectionen vieler
oder weniger Nerven oder Nervenfasern zusammenhängen.
Indem es selbst reproducirt wird, erneuert es mit sich
den Gesammtzustand des Organismus, aus welchem es
seinen Ursprung zuerst erhalten hatte.

§. 156.

Bevor wir weiter gehn, wird es nöthig seyn, der
Hauptarten physiologischer Erklärungen im Allgemeinen
zu erwähnen, und nachzusehn, was jede derselben lei-
sten könne. Dieser Hauptarten zähle ich vier, um mich
fürs erste nach dem Scheinbaren zu richten; es wird sich
jedoch zeigen lassen, dass dieselben nicht alle eine strenge
Unterscheidung gestatten, wenn man in ihre wahren

*) Autenrieth's Physiologie §. 937.
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trete, als etwas bloſs mögliches, was man bewirken würde,
wenn man wollte; ohne gleichwohl die wirkliche Bewe-
gung hervorzubringen, wie jene Complexion es scheine
nothwendig zu machen. Dies Phänomen ist zwar als
Thatsache bekannt und auſser Zweifel; aber es ist ver-
wickelter als jenes. Die Erfahrung zeigt uns dasselbe
immer häufiger bey fortschreitender Ausbildung; da lernt
der Mensch schweigen, er lernt seine Kräfte schonen, er
lernt mit einem Worte sich zurückhalten. Dies ist
eine Wirkung der höheren, appercipirenden Vorstellungs-
massen. Hingegen das Kind realisirt in jedem Augen-
blicke unmittelbar, was ihm einfällt, sein Phantasiren ist
ursprünglich Handeln; gemäſs dem Gesetze jener Com-
plexionen, sobald ihre Wirksamkeit nicht durch eine
höhere Thätigkeit gehindert oder gelenkt wird.

Fünftens: auch ein Umstand, der den Physiologen
befremden kann, scheint nach unserer Erklärung nicht
wunderbar. Dieser nämlich, „daſs die Seele die Fähig-
„keit besitzt, nach gewissen Richtungen von innen her
„aus zu wirken, ohne daſs diese Richtung durch die
„anatomische Verbindung der Nerven bestimmt würde“*).
Das vermittelnde Gefühl nämlich leistet immer die glei-
chen Dienste, es mag nun mit den Affectionen vieler
oder weniger Nerven oder Nervenfasern zusammenhängen.
Indem es selbst reproducirt wird, erneuert es mit sich
den Gesammtzustand des Organismus, aus welchem es
seinen Ursprung zuerst erhalten hatte.

§. 156.

Bevor wir weiter gehn, wird es nöthig seyn, der
Hauptarten physiologischer Erklärungen im Allgemeinen
zu erwähnen, und nachzusehn, was jede derselben lei-
sten könne. Dieser Hauptarten zähle ich vier, um mich
fürs erste nach dem Scheinbaren zu richten; es wird sich
jedoch zeigen lassen, daſs dieselben nicht alle eine strenge
Unterscheidung gestatten, wenn man in ihre wahren

*) Autenrieth’s Physiologie §. 937.
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[467/0502] trete, als etwas bloſs mögliches, was man bewirken würde, wenn man wollte; ohne gleichwohl die wirkliche Bewe- gung hervorzubringen, wie jene Complexion es scheine nothwendig zu machen. Dies Phänomen ist zwar als Thatsache bekannt und auſser Zweifel; aber es ist ver- wickelter als jenes. Die Erfahrung zeigt uns dasselbe immer häufiger bey fortschreitender Ausbildung; da lernt der Mensch schweigen, er lernt seine Kräfte schonen, er lernt mit einem Worte sich zurückhalten. Dies ist eine Wirkung der höheren, appercipirenden Vorstellungs- massen. Hingegen das Kind realisirt in jedem Augen- blicke unmittelbar, was ihm einfällt, sein Phantasiren ist ursprünglich Handeln; gemäſs dem Gesetze jener Com- plexionen, sobald ihre Wirksamkeit nicht durch eine höhere Thätigkeit gehindert oder gelenkt wird. Fünftens: auch ein Umstand, der den Physiologen befremden kann, scheint nach unserer Erklärung nicht wunderbar. Dieser nämlich, „daſs die Seele die Fähig- „keit besitzt, nach gewissen Richtungen von innen her „aus zu wirken, ohne daſs diese Richtung durch die „anatomische Verbindung der Nerven bestimmt würde“ *). Das vermittelnde Gefühl nämlich leistet immer die glei- chen Dienste, es mag nun mit den Affectionen vieler oder weniger Nerven oder Nervenfasern zusammenhängen. Indem es selbst reproducirt wird, erneuert es mit sich den Gesammtzustand des Organismus, aus welchem es seinen Ursprung zuerst erhalten hatte. §. 156. Bevor wir weiter gehn, wird es nöthig seyn, der Hauptarten physiologischer Erklärungen im Allgemeinen zu erwähnen, und nachzusehn, was jede derselben lei- sten könne. Dieser Hauptarten zähle ich vier, um mich fürs erste nach dem Scheinbaren zu richten; es wird sich jedoch zeigen lassen, daſs dieselben nicht alle eine strenge Unterscheidung gestatten, wenn man in ihre wahren *) Autenrieth’s Physiologie §. 937. G g 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/502>, abgerufen am 19.03.2024.