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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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wie Kant jene Unzierde seines Systems nicht gewahr
geworden sey, wenn nicht eine Association hiebey ge-
wirkt hätte. Eine reale Seele, eine reale Gottheit, schie-
nen in die allgemeinere Annahme von Dingen an sich
hineinzugehören. Unter den Flügeln von jenen erhabe-
nen Gegenständen nahmen auf diese sehr gleichgültigen
wieder ihren alten Platz ein. Dies hätte nicht geschehn
können, wäre mit mehr Schärfe der sonst so tief einge-
prägte Gedanke, nichts Uebersinnliches einzulassen, wofür
nicht das moralische Gesetz volle Bürgschaft leiste, auch
hier durchgedrungen. Und so haben wir denn wiederum
ein Ausbleiben des rechten Gedankens an der rechten
Stelle, ungeachtet derselbe Gedanke vorhanden, und mit
ausgezeichneter Stärke gerüstet war. Die anfängliche
Richtung des Systems führt uns abwärts von den Din-
gen an sich, die nachmalige kehrt zu ihnen zurück. Wie
konnte nun der grosse Denker ein solches System in sei-
nem Geiste tragen? Wie, wenn nicht so, dass abwech-
selnd sein Denken bald an den vorderen, bald an den
hinteren Fäden fortlief, und dass er gleichsam ein zwie-
faches Bewusstseyn für die verschiedenen Theile seiner
Lehre, sich angebildet hatte.

Nach einem so ausgezeichneten Beyspiele wird man
kaum verlangen, dass ich noch in niederen Regionen des
gemeinen Denkens ähnliche Fälle nachweise. Man muss
wenig auf Menschen geachtet haben, wenn man nicht
weiss, dass sie sehr gewöhnlich mehrere Gedankenmas-
sen im Kopfe haben, die sich gegenseitig nur mangelhaft
bestimmen und durchdringen, und die, ungeachtet sie im
Widerspruche stehn, sich doch höchst friedlich in der
Einen Wohnung neben einander befinden.

§. 164.

Dennoch erhebt sich grosse Verwunderung, wenn
nach vergrössertem Maassstabe ähnliche Erscheinungen
bey Kranken zu sehen sind. Nachdem Reil *) die Ge-

*) a. a. O. S. 75.

wie Kant jene Unzierde seines Systems nicht gewahr
geworden sey, wenn nicht eine Association hiebey ge-
wirkt hätte. Eine reale Seele, eine reale Gottheit, schie-
nen in die allgemeinere Annahme von Dingen an sich
hineinzugehören. Unter den Flügeln von jenen erhabe-
nen Gegenständen nahmen auf diese sehr gleichgültigen
wieder ihren alten Platz ein. Dies hätte nicht geschehn
können, wäre mit mehr Schärfe der sonst so tief einge-
prägte Gedanke, nichts Uebersinnliches einzulassen, wofür
nicht das moralische Gesetz volle Bürgschaft leiste, auch
hier durchgedrungen. Und so haben wir denn wiederum
ein Ausbleiben des rechten Gedankens an der rechten
Stelle, ungeachtet derselbe Gedanke vorhanden, und mit
ausgezeichneter Stärke gerüstet war. Die anfängliche
Richtung des Systems führt uns abwärts von den Din-
gen an sich, die nachmalige kehrt zu ihnen zurück. Wie
konnte nun der groſse Denker ein solches System in sei-
nem Geiste tragen? Wie, wenn nicht so, daſs abwech-
selnd sein Denken bald an den vorderen, bald an den
hinteren Fäden fortlief, und daſs er gleichsam ein zwie-
faches Bewuſstseyn für die verschiedenen Theile seiner
Lehre, sich angebildet hatte.

Nach einem so ausgezeichneten Beyspiele wird man
kaum verlangen, daſs ich noch in niederen Regionen des
gemeinen Denkens ähnliche Fälle nachweise. Man muſs
wenig auf Menschen geachtet haben, wenn man nicht
weiſs, daſs sie sehr gewöhnlich mehrere Gedankenmas-
sen im Kopfe haben, die sich gegenseitig nur mangelhaft
bestimmen und durchdringen, und die, ungeachtet sie im
Widerspruche stehn, sich doch höchst friedlich in der
Einen Wohnung neben einander befinden.

§. 164.

Dennoch erhebt sich groſse Verwunderung, wenn
nach vergröſsertem Maaſsstabe ähnliche Erscheinungen
bey Kranken zu sehen sind. Nachdem Reil *) die Ge-

*) a. a. O. S. 75.
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[507/0542] wie Kant jene Unzierde seines Systems nicht gewahr geworden sey, wenn nicht eine Association hiebey ge- wirkt hätte. Eine reale Seele, eine reale Gottheit, schie- nen in die allgemeinere Annahme von Dingen an sich hineinzugehören. Unter den Flügeln von jenen erhabe- nen Gegenständen nahmen auf diese sehr gleichgültigen wieder ihren alten Platz ein. Dies hätte nicht geschehn können, wäre mit mehr Schärfe der sonst so tief einge- prägte Gedanke, nichts Uebersinnliches einzulassen, wofür nicht das moralische Gesetz volle Bürgschaft leiste, auch hier durchgedrungen. Und so haben wir denn wiederum ein Ausbleiben des rechten Gedankens an der rechten Stelle, ungeachtet derselbe Gedanke vorhanden, und mit ausgezeichneter Stärke gerüstet war. Die anfängliche Richtung des Systems führt uns abwärts von den Din- gen an sich, die nachmalige kehrt zu ihnen zurück. Wie konnte nun der groſse Denker ein solches System in sei- nem Geiste tragen? Wie, wenn nicht so, daſs abwech- selnd sein Denken bald an den vorderen, bald an den hinteren Fäden fortlief, und daſs er gleichsam ein zwie- faches Bewuſstseyn für die verschiedenen Theile seiner Lehre, sich angebildet hatte. Nach einem so ausgezeichneten Beyspiele wird man kaum verlangen, daſs ich noch in niederen Regionen des gemeinen Denkens ähnliche Fälle nachweise. Man muſs wenig auf Menschen geachtet haben, wenn man nicht weiſs, daſs sie sehr gewöhnlich mehrere Gedankenmas- sen im Kopfe haben, die sich gegenseitig nur mangelhaft bestimmen und durchdringen, und die, ungeachtet sie im Widerspruche stehn, sich doch höchst friedlich in der Einen Wohnung neben einander befinden. §. 164. Dennoch erhebt sich groſse Verwunderung, wenn nach vergröſsertem Maaſsstabe ähnliche Erscheinungen bey Kranken zu sehen sind. Nachdem Reil *) die Ge- *) a. a. O. S. 75.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/542>, abgerufen am 19.03.2024.