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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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niss zwischen Leib und Seele. -- Gleichwohl soll das
kranke Frauenzimmer, dessen Reil erwähnte, sich in
dem Augenblicke, da sie sich als Deutsches Mädchen
denkt, nicht bloss ihrer französischen Persönlichkeit erin-
nern, sondern darüber die Deutsche nicht verlie-
ren
; welches offenbar nothwendig ist, damit sie inne
werde, sie habe geschwärmt. Bedenken wir doch, dass
sie krank ist! Wie soll sie die Anstrengung aushalten,
nicht bloss des Wechsels der Gemüthslagen, sondern
der Aufhäufung einer auf die andere, ja gar der
Stösse, die es geben muss, damit eine die andre Lügen
strafe? Es ist alles mögliche, (allein eben nicht zu er-
warten,) wenn sie nach ihrer Genesung neben ihrer wie-
der bevestigten Deutschen Persönlichkeit noch den Ge-
danken an die französische tragen kann, -- wenn sie
alsdann irgend etwas weiss, von allem, was die Französin
gethan und gesprochen hat. So erinnert sich freylich der
Gesunde seines Traums, weil der Organismus nachgie-
big genug ist gegen den Zusammenstoss der widerstre-
benden Gedankenreihen, und sich bey der Gelegenheit
durch Lachen Luft macht. Wer aber nicht aufgelegt ist
zum Lachen, dem wird jede Revision seiner früheren
Verkehrtheiten entweder peinlich oder unmöglich.

Man wird nun hoffentlich einsehn, dass weder diese
noch ähnliche Geschichten die geringste Schwierigkeit ha-
ben. Das Nil admirari taugt zwar als Maxime nichts,
denn es tödtet die Keime der Forschung; aber ich be-
kenne, dass, wo es nicht nach vollbrachter Untersuchung,
sich als Probe wahrer Einsicht von selbst einfindet, mein
Zutrauen zu dieser Einsicht ziemlich beschränkt ausfällt.

§. 165.

Die Hauptsache, wird vielleicht jemand sagen, sey
noch unerklärt geblieben. Denn das Vorstehende be-
ziehe sich nur auf den Umstand, dass die entgegenge-
setzten Gemüthszustände nicht in Ein Bewusstseyn zu-
sammenkamen, wobey sie sich würden lebhaft gehemmt,
und den Organismus in eine für jetzt unmögliche Span-

niſs zwischen Leib und Seele. — Gleichwohl soll das
kranke Frauenzimmer, dessen Reil erwähnte, sich in
dem Augenblicke, da sie sich als Deutsches Mädchen
denkt, nicht bloſs ihrer französischen Persönlichkeit erin-
nern, sondern darüber die Deutsche nicht verlie-
ren
; welches offenbar nothwendig ist, damit sie inne
werde, sie habe geschwärmt. Bedenken wir doch, daſs
sie krank ist! Wie soll sie die Anstrengung aushalten,
nicht bloſs des Wechsels der Gemüthslagen, sondern
der Aufhäufung einer auf die andere, ja gar der
Stöſse, die es geben muſs, damit eine die andre Lügen
strafe? Es ist alles mögliche, (allein eben nicht zu er-
warten,) wenn sie nach ihrer Genesung neben ihrer wie-
der bevestigten Deutschen Persönlichkeit noch den Ge-
danken an die französische tragen kann, — wenn sie
alsdann irgend etwas weiſs, von allem, was die Französin
gethan und gesprochen hat. So erinnert sich freylich der
Gesunde seines Traums, weil der Organismus nachgie-
big genug ist gegen den Zusammenstoſs der widerstre-
benden Gedankenreihen, und sich bey der Gelegenheit
durch Lachen Luft macht. Wer aber nicht aufgelegt ist
zum Lachen, dem wird jede Revision seiner früheren
Verkehrtheiten entweder peinlich oder unmöglich.

Man wird nun hoffentlich einsehn, daſs weder diese
noch ähnliche Geschichten die geringste Schwierigkeit ha-
ben. Das Nil admirari taugt zwar als Maxime nichts,
denn es tödtet die Keime der Forschung; aber ich be-
kenne, daſs, wo es nicht nach vollbrachter Untersuchung,
sich als Probe wahrer Einsicht von selbst einfindet, mein
Zutrauen zu dieser Einsicht ziemlich beschränkt ausfällt.

§. 165.

Die Hauptsache, wird vielleicht jemand sagen, sey
noch unerklärt geblieben. Denn das Vorstehende be-
ziehe sich nur auf den Umstand, daſs die entgegenge-
setzten Gemüthszustände nicht in Ein Bewuſstseyn zu-
sammenkamen, wobey sie sich würden lebhaft gehemmt,
und den Organismus in eine für jetzt unmögliche Span-

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[510/0545] niſs zwischen Leib und Seele. — Gleichwohl soll das kranke Frauenzimmer, dessen Reil erwähnte, sich in dem Augenblicke, da sie sich als Deutsches Mädchen denkt, nicht bloſs ihrer französischen Persönlichkeit erin- nern, sondern darüber die Deutsche nicht verlie- ren; welches offenbar nothwendig ist, damit sie inne werde, sie habe geschwärmt. Bedenken wir doch, daſs sie krank ist! Wie soll sie die Anstrengung aushalten, nicht bloſs des Wechsels der Gemüthslagen, sondern der Aufhäufung einer auf die andere, ja gar der Stöſse, die es geben muſs, damit eine die andre Lügen strafe? Es ist alles mögliche, (allein eben nicht zu er- warten,) wenn sie nach ihrer Genesung neben ihrer wie- der bevestigten Deutschen Persönlichkeit noch den Ge- danken an die französische tragen kann, — wenn sie alsdann irgend etwas weiſs, von allem, was die Französin gethan und gesprochen hat. So erinnert sich freylich der Gesunde seines Traums, weil der Organismus nachgie- big genug ist gegen den Zusammenstoſs der widerstre- benden Gedankenreihen, und sich bey der Gelegenheit durch Lachen Luft macht. Wer aber nicht aufgelegt ist zum Lachen, dem wird jede Revision seiner früheren Verkehrtheiten entweder peinlich oder unmöglich. Man wird nun hoffentlich einsehn, daſs weder diese noch ähnliche Geschichten die geringste Schwierigkeit ha- ben. Das Nil admirari taugt zwar als Maxime nichts, denn es tödtet die Keime der Forschung; aber ich be- kenne, daſs, wo es nicht nach vollbrachter Untersuchung, sich als Probe wahrer Einsicht von selbst einfindet, mein Zutrauen zu dieser Einsicht ziemlich beschränkt ausfällt. §. 165. Die Hauptsache, wird vielleicht jemand sagen, sey noch unerklärt geblieben. Denn das Vorstehende be- ziehe sich nur auf den Umstand, daſs die entgegenge- setzten Gemüthszustände nicht in Ein Bewuſstseyn zu- sammenkamen, wobey sie sich würden lebhaft gehemmt, und den Organismus in eine für jetzt unmögliche Span-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/545>, abgerufen am 19.03.2024.