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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Kant, so viel ich weiss, war der erste, der über-
haupt Affecten und Leidenschaften, die bis dahin ver-
wirrt unter einander gelegen hatten, gehörig sonderte.
Bey Wolff steht noch die Ruhmsucht zwischen der
Reue und der Schaam; ja es heisst bey ihm: gloria est
affectus
, u. s. w.

Seitdem nun sind die Leidenschaften zu den Be-
gierden gezogen, und zwar zu den sinnlichen Begier-
den *), wodurch der Begriff der Sinnlichkeit eine Aus-
dehnung bekommt, die statt aller Widerlegung dienen
sollte. Denn so gehören die Wahrnehmungen nach Ver-
hältnissen des Raums und der Zeit in eine Klasse mit
den Strebungen des Lüstlings, und zugleich mit dem,
nur all zu oft leidenschaftlichen, Enthusiasmus für Frey-
heit und Vaterland, ja für Religion und Wissenschaft;
und die Sinnlichkeit muss sich in vielen Fällen geradezu
in das Gebiet der Vernunft versteigen, um durch diese
die Gegenstände der Leidenschaften nur erst kennen
zu lernen
, während sie sonst gewohnt ist, selbst die
ersten Anfänge der Erkenntnisse darzubieten! --

Wie bey allen Erfahrungsbegriffen, wird auch hier
die Analyse erleichtert werden, indem wir in den Umfang
des Begriffs der Leidenschaft hinabsteigen, wodurch wir
der Erfahrung, also der Erkenntnissquelle, näher kommen.

Fassen wir auf der einen Seite die Leidenschaften
für sinnliche Genüsse, die Spielsucht, die Sucht nach
Neuigkeiten, Curiositäten, u. s. w. zusammen, auf der
andern die Rachsucht, Eifersucht, Ruhmsucht, und ihres
Gleichen: so fällt leicht der Unterschied ins Auge, dass
jene in etwas Aeusseres versinken, diese das eigne Selbst
hervorheben, und dagegen das Aeussere herabdrücken.
Daneben findet sich alsdann eine dritte Klasse, die bey-
derley Kennzeichen vermengt. Der Geiz ist versunken
in das Geld, und zugleich in das eigne Selbst, in die

*) Unter andern bey Maass über die Leidenschaften,
S. 58., und überhaupt in diesem Werke.

Kant, so viel ich weiſs, war der erste, der über-
haupt Affecten und Leidenschaften, die bis dahin ver-
wirrt unter einander gelegen hatten, gehörig sonderte.
Bey Wolff steht noch die Ruhmsucht zwischen der
Reue und der Schaam; ja es heiſst bey ihm: gloria eſt
affectus
, u. s. w.

Seitdem nun sind die Leidenschaften zu den Be-
gierden gezogen, und zwar zu den sinnlichen Begier-
den *), wodurch der Begriff der Sinnlichkeit eine Aus-
dehnung bekommt, die statt aller Widerlegung dienen
sollte. Denn so gehören die Wahrnehmungen nach Ver-
hältnissen des Raums und der Zeit in eine Klasse mit
den Strebungen des Lüstlings, und zugleich mit dem,
nur all zu oft leidenschaftlichen, Enthusiasmus für Frey-
heit und Vaterland, ja für Religion und Wissenschaft;
und die Sinnlichkeit muſs sich in vielen Fällen geradezu
in das Gebiet der Vernunft versteigen, um durch diese
die Gegenstände der Leidenschaften nur erst kennen
zu lernen
, während sie sonst gewohnt ist, selbst die
ersten Anfänge der Erkenntnisse darzubieten! —

Wie bey allen Erfahrungsbegriffen, wird auch hier
die Analyse erleichtert werden, indem wir in den Umfang
des Begriffs der Leidenschaft hinabsteigen, wodurch wir
der Erfahrung, also der Erkenntniſsquelle, näher kommen.

Fassen wir auf der einen Seite die Leidenschaften
für sinnliche Genüsse, die Spielsucht, die Sucht nach
Neuigkeiten, Curiositäten, u. s. w. zusammen, auf der
andern die Rachsucht, Eifersucht, Ruhmsucht, und ihres
Gleichen: so fällt leicht der Unterschied ins Auge, daſs
jene in etwas Aeuſseres versinken, diese das eigne Selbst
hervorheben, und dagegen das Aeuſsere herabdrücken.
Daneben findet sich alsdann eine dritte Klasse, die bey-
derley Kennzeichen vermengt. Der Geiz ist versunken
in das Geld, und zugleich in das eigne Selbst, in die

*) Unter andern bey Maaſs über die Leidenschaften,
S. 58., und überhaupt in diesem Werke.
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[105/0140] Kant, so viel ich weiſs, war der erste, der über- haupt Affecten und Leidenschaften, die bis dahin ver- wirrt unter einander gelegen hatten, gehörig sonderte. Bey Wolff steht noch die Ruhmsucht zwischen der Reue und der Schaam; ja es heiſst bey ihm: gloria eſt affectus, u. s. w. Seitdem nun sind die Leidenschaften zu den Be- gierden gezogen, und zwar zu den sinnlichen Begier- den *), wodurch der Begriff der Sinnlichkeit eine Aus- dehnung bekommt, die statt aller Widerlegung dienen sollte. Denn so gehören die Wahrnehmungen nach Ver- hältnissen des Raums und der Zeit in eine Klasse mit den Strebungen des Lüstlings, und zugleich mit dem, nur all zu oft leidenschaftlichen, Enthusiasmus für Frey- heit und Vaterland, ja für Religion und Wissenschaft; und die Sinnlichkeit muſs sich in vielen Fällen geradezu in das Gebiet der Vernunft versteigen, um durch diese die Gegenstände der Leidenschaften nur erst kennen zu lernen, während sie sonst gewohnt ist, selbst die ersten Anfänge der Erkenntnisse darzubieten! — Wie bey allen Erfahrungsbegriffen, wird auch hier die Analyse erleichtert werden, indem wir in den Umfang des Begriffs der Leidenschaft hinabsteigen, wodurch wir der Erfahrung, also der Erkenntniſsquelle, näher kommen. Fassen wir auf der einen Seite die Leidenschaften für sinnliche Genüsse, die Spielsucht, die Sucht nach Neuigkeiten, Curiositäten, u. s. w. zusammen, auf der andern die Rachsucht, Eifersucht, Ruhmsucht, und ihres Gleichen: so fällt leicht der Unterschied ins Auge, daſs jene in etwas Aeuſseres versinken, diese das eigne Selbst hervorheben, und dagegen das Aeuſsere herabdrücken. Daneben findet sich alsdann eine dritte Klasse, die bey- derley Kennzeichen vermengt. Der Geiz ist versunken in das Geld, und zugleich in das eigne Selbst, in die *) Unter andern bey Maaſs über die Leidenschaften, S. 58., und überhaupt in diesem Werke.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/140>, abgerufen am 29.03.2024.