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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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liche und vollkommene Aussereinander besser einen Be-
griff
, als eine Anschauung nennen.

In dieser Erläuterung haben wir nun schon ange-
nommen, es gebe zwischen den beyden Puncten ein Mitt-
leres; dieses Mittlere werde durch die Vorstellung eines
jeden seiner Endpuncte eiliger reproducirt, als der an-
dere Endpunct; und so schiebe eine jede Reproduction
das Mittlere gerade so zwischen die Endpuncte, wie es
wirklich dazwischen liegen möge. Sollten wir nun dieses
Zwischenliegende gar nicht entbehren können? Sollten
die Puncte wirklich in einander schwinden, wenn das
Zwischenliegende wegfiele? Und ist es denn wirklich
nicht möglich, sich zwey nächste Puncte, genau an ein-
ander liegend, vorzustellen?

Gewiss ist es unmöglich, so lange wir in dem Kreise
der hier beschriebenen, sinnlichen Vorstellungsart ver-
bleiben.

Denn das räumliche Vorstellen beruht, wie wir ge-
sehen haben, auf einer abgestuften Verschmelzung einer
Vorstellung mit einer Reihe anderer Vorstellungen. Wenn
nun die Vorstellung a verschmolzen ist durch ihren Rest
r mit b, durch ihren kleineren Rest r' mit c, durch ihren
noch kleineren Rest r" mit d, u. s. w. was würde nöthig
seyn, damit c und d so nahe erschienen, dass nichts
mehr dazwischen Platz hätte? Nichts geringeres, als dass
zwischen den Resten r' und r" kein mittlerer, folglich
zwischen den durch sie bestimmten Reproductionsgesetzen
für c und d ebenfalls kein mittleres Statt finden könnte.
Nun aber besteht die Vorstellung a gewiss nicht aus den
Differenzen ihrer Reste; sie besteht überhaupt nicht aus
Theilen; sondern verschiedene Grade der Verdunkelung
erleidet sie zufälligerweise durch andre Vorstellungen;
und sie kann deren unendlich viele erleiden. Und diese
unendlich vielfache Möglichkeit, zwischen je
zwey Resten, wie
r' und r", noch unzählige andre
zu bestimmen, die ebenfalls ihre Verschmelzun-
gen eingegangen seyn könnten, ist der Grund

liche und vollkommene Auſsereinander besser einen Be-
griff
, als eine Anschauung nennen.

In dieser Erläuterung haben wir nun schon ange-
nommen, es gebe zwischen den beyden Puncten ein Mitt-
leres; dieses Mittlere werde durch die Vorstellung eines
jeden seiner Endpuncte eiliger reproducirt, als der an-
dere Endpunct; und so schiebe eine jede Reproduction
das Mittlere gerade so zwischen die Endpuncte, wie es
wirklich dazwischen liegen möge. Sollten wir nun dieses
Zwischenliegende gar nicht entbehren können? Sollten
die Puncte wirklich in einander schwinden, wenn das
Zwischenliegende wegfiele? Und ist es denn wirklich
nicht möglich, sich zwey nächste Puncte, genau an ein-
ander liegend, vorzustellen?

Gewiſs ist es unmöglich, so lange wir in dem Kreise
der hier beschriebenen, sinnlichen Vorstellungsart ver-
bleiben.

Denn das räumliche Vorstellen beruht, wie wir ge-
sehen haben, auf einer abgestuften Verschmelzung einer
Vorstellung mit einer Reihe anderer Vorstellungen. Wenn
nun die Vorstellung a verschmolzen ist durch ihren Rest
r mit b, durch ihren kleineren Rest r′ mit c, durch ihren
noch kleineren Rest r″ mit d, u. s. w. was würde nöthig
seyn, damit c und d so nahe erschienen, daſs nichts
mehr dazwischen Platz hätte? Nichts geringeres, als daſs
zwischen den Resten r′ und r″ kein mittlerer, folglich
zwischen den durch sie bestimmten Reproductionsgesetzen
für c und d ebenfalls kein mittleres Statt finden könnte.
Nun aber besteht die Vorstellung a gewiſs nicht aus den
Differenzen ihrer Reste; sie besteht überhaupt nicht aus
Theilen; sondern verschiedene Grade der Verdunkelung
erleidet sie zufälligerweise durch andre Vorstellungen;
und sie kann deren unendlich viele erleiden. Und diese
unendlich vielfache Möglichkeit, zwischen je
zwey Resten, wie
r′ und r″, noch unzählige andre
zu bestimmen, die ebenfalls ihre Verschmelzun-
gen eingegangen seyn könnten, ist der Grund

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[136/0171] liche und vollkommene Auſsereinander besser einen Be- griff, als eine Anschauung nennen. In dieser Erläuterung haben wir nun schon ange- nommen, es gebe zwischen den beyden Puncten ein Mitt- leres; dieses Mittlere werde durch die Vorstellung eines jeden seiner Endpuncte eiliger reproducirt, als der an- dere Endpunct; und so schiebe eine jede Reproduction das Mittlere gerade so zwischen die Endpuncte, wie es wirklich dazwischen liegen möge. Sollten wir nun dieses Zwischenliegende gar nicht entbehren können? Sollten die Puncte wirklich in einander schwinden, wenn das Zwischenliegende wegfiele? Und ist es denn wirklich nicht möglich, sich zwey nächste Puncte, genau an ein- ander liegend, vorzustellen? Gewiſs ist es unmöglich, so lange wir in dem Kreise der hier beschriebenen, sinnlichen Vorstellungsart ver- bleiben. Denn das räumliche Vorstellen beruht, wie wir ge- sehen haben, auf einer abgestuften Verschmelzung einer Vorstellung mit einer Reihe anderer Vorstellungen. Wenn nun die Vorstellung a verschmolzen ist durch ihren Rest r mit b, durch ihren kleineren Rest r′ mit c, durch ihren noch kleineren Rest r″ mit d, u. s. w. was würde nöthig seyn, damit c und d so nahe erschienen, daſs nichts mehr dazwischen Platz hätte? Nichts geringeres, als daſs zwischen den Resten r′ und r″ kein mittlerer, folglich zwischen den durch sie bestimmten Reproductionsgesetzen für c und d ebenfalls kein mittleres Statt finden könnte. Nun aber besteht die Vorstellung a gewiſs nicht aus den Differenzen ihrer Reste; sie besteht überhaupt nicht aus Theilen; sondern verschiedene Grade der Verdunkelung erleidet sie zufälligerweise durch andre Vorstellungen; und sie kann deren unendlich viele erleiden. Und diese unendlich vielfache Möglichkeit, zwischen je zwey Resten, wie r′ und r″, noch unzählige andre zu bestimmen, die ebenfalls ihre Verschmelzun- gen eingegangen seyn könnten, ist der Grund

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/171>, abgerufen am 29.03.2024.