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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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unsichtbarer Tinte gezeichnet. Die Figur ist vorhanden;
ihr Umriss wird auch gesehen, aber er wird nicht eher
unterschieden, als bis durch ein hinzukommendes
Mittel die Zeichnung eine, von der übrigen Fläche ab-
stechende Farbe bekommt. Diese abstechende Farbe
hält den Blick an, der über die Fläche forteilen will; sie
fängt gleichsam das Auge innerhalb des Umrisses, und
macht es an demselben herumlaufen; dadurch wird die
Gestalt erkannt.

Zweytens: schon ein einziger abstechender Punct
wird bemerkt auf einer gleichfarbigen Fläche *); und ein
einziger Flecken wird um so auffallender, je reiner übri-
gens die Fläche ist. Was geht hier vor? Diese Frage
kann durch die blosse Erwähnung des Contrastes nicht
beantwortet werden; denn wenn man auch mit dem
Worte Contrast einen hestimmten Begriff verbindet,
so muss man sich doch wundern, dass die ganze Masse
des Vorstellens, welches die Auffassung einer weissen
Fläche erzeugt, nicht die schwache Vorstellung eines
kleinen, dunkeln Punctes beynahe gänzlich hemme; man
muss sich wundern, dass, scheinbar gegen alle statische
Gesetze, die schwache Vorstellung sogar vorzugsweise
heraustrete. Wir erinnern uns hier vor Allem der ab-
nehmenden Empfänglichkeit für die Wahrnehmung der,
überall entgegenkommenden Farbe der Fläche; der mehr
geschonten Empfänglichkeit für die Auffassung des ein-
zelnen Punctes. (Vergl. §. 94.) Ferner: indem der
Blick, die Fläche durchlaufend, an den Punct stösst, er-
leidet die Vorstellung der Farbe der Fläche ein plötzli-
ches Sinken, (§. 77.) Ueberdies verschmilzt die Vor-
stellung des Punctes mit jener der Fläche, (nämlich mit
jeder Stelle der Fläche in einem eigenen, bestimmten
Grade,) und zwar erhält sie hier eine sehr beträchtliche

*) Ohne abstechende Puncte würde ursprünglich gar keine Fläche
gesehen; denn die Stellen der Fläche unterscheiden sich nur durch die
verschiedene Verschmelzung mit dem Abstechenden.

unsichtbarer Tinte gezeichnet. Die Figur ist vorhanden;
ihr Umriſs wird auch gesehen, aber er wird nicht eher
unterschieden, als bis durch ein hinzukommendes
Mittel die Zeichnung eine, von der übrigen Fläche ab-
stechende Farbe bekommt. Diese abstechende Farbe
hält den Blick an, der über die Fläche forteilen will; sie
fängt gleichsam das Auge innerhalb des Umrisses, und
macht es an demselben herumlaufen; dadurch wird die
Gestalt erkannt.

Zweytens: schon ein einziger abstechender Punct
wird bemerkt auf einer gleichfarbigen Fläche *); und ein
einziger Flecken wird um so auffallender, je reiner übri-
gens die Fläche ist. Was geht hier vor? Diese Frage
kann durch die bloſse Erwähnung des Contrastes nicht
beantwortet werden; denn wenn man auch mit dem
Worte Contrast einen hestimmten Begriff verbindet,
so muſs man sich doch wundern, daſs die ganze Masse
des Vorstellens, welches die Auffassung einer weiſsen
Fläche erzeugt, nicht die schwache Vorstellung eines
kleinen, dunkeln Punctes beynahe gänzlich hemme; man
muſs sich wundern, daſs, scheinbar gegen alle statische
Gesetze, die schwache Vorstellung sogar vorzugsweise
heraustrete. Wir erinnern uns hier vor Allem der ab-
nehmenden Empfänglichkeit für die Wahrnehmung der,
überall entgegenkommenden Farbe der Fläche; der mehr
geschonten Empfänglichkeit für die Auffassung des ein-
zelnen Punctes. (Vergl. §. 94.) Ferner: indem der
Blick, die Fläche durchlaufend, an den Punct stöſst, er-
leidet die Vorstellung der Farbe der Fläche ein plötzli-
ches Sinken, (§. 77.) Ueberdies verschmilzt die Vor-
stellung des Punctes mit jener der Fläche, (nämlich mit
jeder Stelle der Fläche in einem eigenen, bestimmten
Grade,) und zwar erhält sie hier eine sehr beträchtliche

*) Ohne abstechende Puncte würde ursprünglich gar keine Fläche
gesehen; denn die Stellen der Fläche unterscheiden sich nur durch die
verschiedene Verschmelzung mit dem Abstechenden.
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[138/0173] unsichtbarer Tinte gezeichnet. Die Figur ist vorhanden; ihr Umriſs wird auch gesehen, aber er wird nicht eher unterschieden, als bis durch ein hinzukommendes Mittel die Zeichnung eine, von der übrigen Fläche ab- stechende Farbe bekommt. Diese abstechende Farbe hält den Blick an, der über die Fläche forteilen will; sie fängt gleichsam das Auge innerhalb des Umrisses, und macht es an demselben herumlaufen; dadurch wird die Gestalt erkannt. Zweytens: schon ein einziger abstechender Punct wird bemerkt auf einer gleichfarbigen Fläche *); und ein einziger Flecken wird um so auffallender, je reiner übri- gens die Fläche ist. Was geht hier vor? Diese Frage kann durch die bloſse Erwähnung des Contrastes nicht beantwortet werden; denn wenn man auch mit dem Worte Contrast einen hestimmten Begriff verbindet, so muſs man sich doch wundern, daſs die ganze Masse des Vorstellens, welches die Auffassung einer weiſsen Fläche erzeugt, nicht die schwache Vorstellung eines kleinen, dunkeln Punctes beynahe gänzlich hemme; man muſs sich wundern, daſs, scheinbar gegen alle statische Gesetze, die schwache Vorstellung sogar vorzugsweise heraustrete. Wir erinnern uns hier vor Allem der ab- nehmenden Empfänglichkeit für die Wahrnehmung der, überall entgegenkommenden Farbe der Fläche; der mehr geschonten Empfänglichkeit für die Auffassung des ein- zelnen Punctes. (Vergl. §. 94.) Ferner: indem der Blick, die Fläche durchlaufend, an den Punct stöſst, er- leidet die Vorstellung der Farbe der Fläche ein plötzli- ches Sinken, (§. 77.) Ueberdies verschmilzt die Vor- stellung des Punctes mit jener der Fläche, (nämlich mit jeder Stelle der Fläche in einem eigenen, bestimmten Grade,) und zwar erhält sie hier eine sehr beträchtliche *) Ohne abstechende Puncte würde ursprünglich gar keine Fläche gesehen; denn die Stellen der Fläche unterscheiden sich nur durch die verschiedene Verschmelzung mit dem Abstechenden.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/173>, abgerufen am 25.04.2024.