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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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unzählbare Menge höchst gehemmter Reproductionen, die
von dem Gegenstande nach allen Richtungen ausgehn.

Nachdem für eine Menge gesehener Gegenstände ein
solcher Umgebungs-Raum in der frühesten Kindheit ein-
mal war erzeugt worden: konnte es nicht fehlen, dass
jede neue Gesichtsvorstellung, indem sie ihre ganz oder
nahe Gleichartigen zurückrief, sich auch in deren Umge-
bungsraum versetzte, sich etwas davon aneignete. Für
das reifere Alter hat sich ein solcher Ueberfluss an lee-
rem Raume gesammelt, dass wir gegenwärtig auf ihm
alle unsre Bilder zeichnen, ihn durch sie bestimmen.

Hierauf nun endlich gründet sich ein sehr merkwür-
diges psychologisches Phänomen, nämlich die Repro-
duction wegen der Gestalt
. Sie ist etwas so All-
tägliches, dass man sie an einem ganz leichten Beyspiele
zureichend erkennen wird. Es ist uns gleich, ob eine
Schrift schwarz auf weiss, oder (auf der Schiefertafel)
weiss auf schwarz vor unsern Augen liegt; wir lesen sie
auch eben so leicht, wenn sie mit rother Tinte, oder mit
goldenen Buchstaben geschrieben ist. Wie kann das
seyn? Sicherlich nur durch eine Reproduction der ein-
mal bekannten Zeichen. Aber wer die schwarzen Buch-
staben gelernt hat, wie können dem diese schwarzen Fi-
guren wieder einfallen, wenn er die rothen oder die gold-
nen sieht? Zwischen den einfachen Empfindungen roth
und schwarz ist Hemmung; das Gegentheil der Repro-
duction. Diese letztere konnte unmittelbar durchaus
nicht erfolgen; gleichwohl geschieht sie mit grösster Leich-
tigkeit. Also ist ein Mittelglied dazwischen getreten; und
dies ist eben jenes dunkle Raumbild, welches sich auf
gleiche Weise an Rothes und Schwarzes anschliesst, und
aufgerufen vom einen, sogleich das andere herbeyführt,
von welchem es eine ähnliche Bestimmung erhielt. Es
ist der gemeinste Stoff, den wir haben, viel wohlfeiler als
alle sinnlichen Empfindungen; wir verarbeiten ihn unauf-
hörlich, mengen, versetzen und verfälschen alles mit
ihm, -- und kennen ihn doch nicht, wenn er uns

in

unzählbare Menge höchst gehemmter Reproductionen, die
von dem Gegenstande nach allen Richtungen ausgehn.

Nachdem für eine Menge gesehener Gegenstände ein
solcher Umgebungs-Raum in der frühesten Kindheit ein-
mal war erzeugt worden: konnte es nicht fehlen, daſs
jede neue Gesichtsvorstellung, indem sie ihre ganz oder
nahe Gleichartigen zurückrief, sich auch in deren Umge-
bungsraum versetzte, sich etwas davon aneignete. Für
das reifere Alter hat sich ein solcher Ueberfluſs an lee-
rem Raume gesammelt, daſs wir gegenwärtig auf ihm
alle unsre Bilder zeichnen, ihn durch sie bestimmen.

Hierauf nun endlich gründet sich ein sehr merkwür-
diges psychologisches Phänomen, nämlich die Repro-
duction wegen der Gestalt
. Sie ist etwas so All-
tägliches, daſs man sie an einem ganz leichten Beyspiele
zureichend erkennen wird. Es ist uns gleich, ob eine
Schrift schwarz auf weiſs, oder (auf der Schiefertafel)
weiſs auf schwarz vor unsern Augen liegt; wir lesen sie
auch eben so leicht, wenn sie mit rother Tinte, oder mit
goldenen Buchstaben geschrieben ist. Wie kann das
seyn? Sicherlich nur durch eine Reproduction der ein-
mal bekannten Zeichen. Aber wer die schwarzen Buch-
staben gelernt hat, wie können dem diese schwarzen Fi-
guren wieder einfallen, wenn er die rothen oder die gold-
nen sieht? Zwischen den einfachen Empfindungen roth
und schwarz ist Hemmung; das Gegentheil der Repro-
duction. Diese letztere konnte unmittelbar durchaus
nicht erfolgen; gleichwohl geschieht sie mit gröſster Leich-
tigkeit. Also ist ein Mittelglied dazwischen getreten; und
dies ist eben jenes dunkle Raumbild, welches sich auf
gleiche Weise an Rothes und Schwarzes anschlieſst, und
aufgerufen vom einen, sogleich das andere herbeyführt,
von welchem es eine ähnliche Bestimmung erhielt. Es
ist der gemeinste Stoff, den wir haben, viel wohlfeiler als
alle sinnlichen Empfindungen; wir verarbeiten ihn unauf-
hörlich, mengen, versetzen und verfälschen alles mit
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[144/0179] unzählbare Menge höchst gehemmter Reproductionen, die von dem Gegenstande nach allen Richtungen ausgehn. Nachdem für eine Menge gesehener Gegenstände ein solcher Umgebungs-Raum in der frühesten Kindheit ein- mal war erzeugt worden: konnte es nicht fehlen, daſs jede neue Gesichtsvorstellung, indem sie ihre ganz oder nahe Gleichartigen zurückrief, sich auch in deren Umge- bungsraum versetzte, sich etwas davon aneignete. Für das reifere Alter hat sich ein solcher Ueberfluſs an lee- rem Raume gesammelt, daſs wir gegenwärtig auf ihm alle unsre Bilder zeichnen, ihn durch sie bestimmen. Hierauf nun endlich gründet sich ein sehr merkwür- diges psychologisches Phänomen, nämlich die Repro- duction wegen der Gestalt. Sie ist etwas so All- tägliches, daſs man sie an einem ganz leichten Beyspiele zureichend erkennen wird. Es ist uns gleich, ob eine Schrift schwarz auf weiſs, oder (auf der Schiefertafel) weiſs auf schwarz vor unsern Augen liegt; wir lesen sie auch eben so leicht, wenn sie mit rother Tinte, oder mit goldenen Buchstaben geschrieben ist. Wie kann das seyn? Sicherlich nur durch eine Reproduction der ein- mal bekannten Zeichen. Aber wer die schwarzen Buch- staben gelernt hat, wie können dem diese schwarzen Fi- guren wieder einfallen, wenn er die rothen oder die gold- nen sieht? Zwischen den einfachen Empfindungen roth und schwarz ist Hemmung; das Gegentheil der Repro- duction. Diese letztere konnte unmittelbar durchaus nicht erfolgen; gleichwohl geschieht sie mit gröſster Leich- tigkeit. Also ist ein Mittelglied dazwischen getreten; und dies ist eben jenes dunkle Raumbild, welches sich auf gleiche Weise an Rothes und Schwarzes anschlieſst, und aufgerufen vom einen, sogleich das andere herbeyführt, von welchem es eine ähnliche Bestimmung erhielt. Es ist der gemeinste Stoff, den wir haben, viel wohlfeiler als alle sinnlichen Empfindungen; wir verarbeiten ihn unauf- hörlich, mengen, versetzen und verfälschen alles mit ihm, — und kennen ihn doch nicht, wenn er uns in

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/179>, abgerufen am 28.03.2024.