Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

in den Beziehungspunct verwandelt werden;) wäh-
rend die Eins vielmehr selbst eine Zahl ist, das heisst,
eine von den möglichen Antworten auf die Frage: wieviel?

Es entstehn die grösseren Zahlen nicht aus der Eins,
sondern gerade umgekehrt die Eins aus der Mehrheit. Denn
wenn ein Gegenstand nur einmal vorhanden ist, so fällt
der allgemeine Begriff, und dessen Anwendung, zusam-
men; und nur in den Fällen einer Mehrheit des Gleich-
artigen kann der Gattungsbegriff desselben, welcher
der Beziehungspunct und folglich die conditio sine qua
non
des Zahlbegriffs ist, von den einzelnen Gegen-
ständen
ursprünglich unterschieden werden. Sind aber
schon Begriffe einer Mehrheit, wenn auch noch nicht
völlig bestimmte Begriffe der grössern Zahlen, vorhan-
den, dann bedarf man auch der Eins, die nun das
Einzelne bezeichnet, was man aus der grössern
Menge absondert oder ihr entgegensetzt
.

Wenn aber auch eingeräumt werden könnte, dass
die Zahlen durch successive Addition von Einheiten ent-
ständen; so würde daraus noch ganz und gar nicht fol-
gen, dass irgend etwas von Zeitbestimmung oder Succes-
sion in den Vorstellungen der Zahlen enthalten sey.
Vielmehr fordert die Zahl die vollkommenste Simultanei-
tät, und löscht die Succession des Durchzählens, wodurch
man bis zu ihr gelangt seyn mag, gänzlich aus. Die
Zahl hat demnach mit der Zeit nicht mehr gemein, als
hundert andre Vorstellungsarten, die auch nur allmählig
konnten erzeugt werden. So gelangen wir auch im Raume
aus einer bekannten Gegend nach und nach durch Er-
weiterung unseres Gedankenkreises in die unbekannten
und entlegenen; das Erstaunen über die Entfernung der
Sonne, der Fixsterne, der Nebelflecke, ist noch weit stär-
ker als das über Trillionen oder Centillionen in Zahlen;
zum Zeichen, dass wir in den entfernten Räumen nicht
heimisch sind, sondern langsam und mühsam uns dahin-
aus fortbewegen. Wer wird darum zweifeln, dass im
Raume Alles zugleich sey? Oder wer wird die Vor-

in den Beziehungspunct verwandelt werden;) wäh-
rend die Eins vielmehr selbst eine Zahl ist, das heiſst,
eine von den möglichen Antworten auf die Frage: wieviel?

Es entstehn die gröſseren Zahlen nicht aus der Eins,
sondern gerade umgekehrt die Eins aus der Mehrheit. Denn
wenn ein Gegenstand nur einmal vorhanden ist, so fällt
der allgemeine Begriff, und dessen Anwendung, zusam-
men; und nur in den Fällen einer Mehrheit des Gleich-
artigen kann der Gattungsbegriff desselben, welcher
der Beziehungspunct und folglich die conditio sine qua
non
des Zahlbegriffs ist, von den einzelnen Gegen-
ständen
ursprünglich unterschieden werden. Sind aber
schon Begriffe einer Mehrheit, wenn auch noch nicht
völlig bestimmte Begriffe der gröſsern Zahlen, vorhan-
den, dann bedarf man auch der Eins, die nun das
Einzelne bezeichnet, was man aus der gröſsern
Menge absondert oder ihr entgegensetzt
.

Wenn aber auch eingeräumt werden könnte, daſs
die Zahlen durch successive Addition von Einheiten ent-
ständen; so würde daraus noch ganz und gar nicht fol-
gen, daſs irgend etwas von Zeitbestimmung oder Succes-
sion in den Vorstellungen der Zahlen enthalten sey.
Vielmehr fordert die Zahl die vollkommenste Simultanei-
tät, und löscht die Succession des Durchzählens, wodurch
man bis zu ihr gelangt seyn mag, gänzlich aus. Die
Zahl hat demnach mit der Zeit nicht mehr gemein, als
hundert andre Vorstellungsarten, die auch nur allmählig
konnten erzeugt werden. So gelangen wir auch im Raume
aus einer bekannten Gegend nach und nach durch Er-
weiterung unseres Gedankenkreises in die unbekannten
und entlegenen; das Erstaunen über die Entfernung der
Sonne, der Fixsterne, der Nebelflecke, ist noch weit stär-
ker als das über Trillionen oder Centillionen in Zahlen;
zum Zeichen, daſs wir in den entfernten Räumen nicht
heimisch sind, sondern langsam und mühsam uns dahin-
aus fortbewegen. Wer wird darum zweifeln, daſs im
Raume Alles zugleich sey? Oder wer wird die Vor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0197" n="162"/>
in den <hi rendition="#g">Beziehungspunct</hi> verwandelt werden;) wäh-<lb/>
rend die Eins vielmehr selbst eine Zahl ist, das hei&#x017F;st,<lb/>
eine von den möglichen Antworten auf die Frage: wieviel?</p><lb/>
              <p>Es entstehn die grö&#x017F;seren Zahlen nicht aus der Eins,<lb/>
sondern gerade umgekehrt die Eins aus der Mehrheit. Denn<lb/>
wenn ein Gegenstand nur einmal vorhanden ist, so fällt<lb/>
der allgemeine Begriff, und dessen Anwendung, zusam-<lb/>
men; und nur in den Fällen einer Mehrheit des Gleich-<lb/>
artigen kann der <hi rendition="#g">Gattungsbegriff</hi> desselben, welcher<lb/>
der Beziehungspunct und folglich die <hi rendition="#i">conditio sine qua<lb/>
non</hi> des Zahlbegriffs ist, <hi rendition="#g">von den einzelnen Gegen-<lb/>
ständen</hi> ursprünglich unterschieden werden. Sind aber<lb/>
schon Begriffe einer Mehrheit, wenn auch noch nicht<lb/>
völlig bestimmte Begriffe der grö&#x017F;sern Zahlen, vorhan-<lb/>
den, dann bedarf man auch der Eins, <hi rendition="#g">die nun das<lb/>
Einzelne bezeichnet, was man aus der grö&#x017F;sern<lb/>
Menge absondert oder ihr entgegensetzt</hi>.</p><lb/>
              <p>Wenn aber auch eingeräumt werden könnte, da&#x017F;s<lb/>
die Zahlen durch successive Addition von Einheiten ent-<lb/>
ständen; so würde daraus noch ganz und gar nicht fol-<lb/>
gen, da&#x017F;s irgend etwas von Zeitbestimmung oder Succes-<lb/>
sion in den Vorstellungen der Zahlen enthalten sey.<lb/>
Vielmehr fordert die Zahl die vollkommenste Simultanei-<lb/>
tät, und löscht die Succession des Durchzählens, wodurch<lb/>
man bis zu ihr gelangt seyn mag, gänzlich aus. Die<lb/>
Zahl hat demnach mit der Zeit nicht mehr gemein, als<lb/>
hundert andre Vorstellungsarten, die auch nur allmählig<lb/>
konnten erzeugt werden. So gelangen wir auch im Raume<lb/>
aus einer bekannten Gegend nach und nach durch Er-<lb/>
weiterung unseres Gedankenkreises in die unbekannten<lb/>
und entlegenen; das Erstaunen über die Entfernung der<lb/>
Sonne, der Fixsterne, der Nebelflecke, ist noch weit stär-<lb/>
ker als das über Trillionen oder Centillionen in Zahlen;<lb/>
zum Zeichen, da&#x017F;s wir in den entfernten Räumen nicht<lb/>
heimisch sind, sondern langsam und mühsam uns dahin-<lb/>
aus fortbewegen. Wer wird darum zweifeln, da&#x017F;s im<lb/>
Raume Alles zugleich sey? Oder wer wird die Vor-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0197] in den Beziehungspunct verwandelt werden;) wäh- rend die Eins vielmehr selbst eine Zahl ist, das heiſst, eine von den möglichen Antworten auf die Frage: wieviel? Es entstehn die gröſseren Zahlen nicht aus der Eins, sondern gerade umgekehrt die Eins aus der Mehrheit. Denn wenn ein Gegenstand nur einmal vorhanden ist, so fällt der allgemeine Begriff, und dessen Anwendung, zusam- men; und nur in den Fällen einer Mehrheit des Gleich- artigen kann der Gattungsbegriff desselben, welcher der Beziehungspunct und folglich die conditio sine qua non des Zahlbegriffs ist, von den einzelnen Gegen- ständen ursprünglich unterschieden werden. Sind aber schon Begriffe einer Mehrheit, wenn auch noch nicht völlig bestimmte Begriffe der gröſsern Zahlen, vorhan- den, dann bedarf man auch der Eins, die nun das Einzelne bezeichnet, was man aus der gröſsern Menge absondert oder ihr entgegensetzt. Wenn aber auch eingeräumt werden könnte, daſs die Zahlen durch successive Addition von Einheiten ent- ständen; so würde daraus noch ganz und gar nicht fol- gen, daſs irgend etwas von Zeitbestimmung oder Succes- sion in den Vorstellungen der Zahlen enthalten sey. Vielmehr fordert die Zahl die vollkommenste Simultanei- tät, und löscht die Succession des Durchzählens, wodurch man bis zu ihr gelangt seyn mag, gänzlich aus. Die Zahl hat demnach mit der Zeit nicht mehr gemein, als hundert andre Vorstellungsarten, die auch nur allmählig konnten erzeugt werden. So gelangen wir auch im Raume aus einer bekannten Gegend nach und nach durch Er- weiterung unseres Gedankenkreises in die unbekannten und entlegenen; das Erstaunen über die Entfernung der Sonne, der Fixsterne, der Nebelflecke, ist noch weit stär- ker als das über Trillionen oder Centillionen in Zahlen; zum Zeichen, daſs wir in den entfernten Räumen nicht heimisch sind, sondern langsam und mühsam uns dahin- aus fortbewegen. Wer wird darum zweifeln, daſs im Raume Alles zugleich sey? Oder wer wird die Vor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/197
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/197>, abgerufen am 19.04.2024.