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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Verlangte zu leisten, und für die ihr angehängten Mei-
nungen Bürgschaft zu übernehmen. Die Logik redet von
Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Daraus machte man
drey verborgene Qualitäten der Seele, ein Vermögen zu
begreifen, ein anderes zu urtheilen, ein drittes zu schlie-
ssen. Nun fanden sich in der gemeinen Sprache die
Worte Verstand und Vernunft (intellectus et ratio);
diese mussten doch etwas bedeuten, sie mussten zu etwas
gebraucht werden. Wie konnte man sie besser anwen-
den, als indem man dem Verstande das Begreifen, der
Vernunft das Schliessen auftrug. Ein neuer Name für
das mittlere Vermögen zwischen beyden war nöthig --
und die Urtheilskraft wurde geschaffen.

Ein wenig später besann man sich, dass noch einiges
Andere in dem menschlichen Vorstellen und Denken sich
ereigne, wofür auch Namen da seyn müssten. Das Handeln
nach Ueberlegung, nach Gründen, besonders nach sittlichen
Maximen, wird im gemeinen Leben vernünftiges Handeln
genannt; also musste die Vernunft nicht bloss theoretisch
seyn, sondern auch praktisch. So wurde das Vermögen
zu Syllogismen, zugleich das Vermögen der obersten
praktischen Gesetzgebung, -- und nun entstand die Auf-
gabe, nachzuweisen, was für eine wirkliche, nicht bloss
logische, Gemeinschaft, was für eine reale Einheit sich
möge ausdenken lassen, woraus der Syllogismus und das
Gewissen zusammengenommen hervorgehn könnten, so
jedoch, dass dabey keinem andern Seelenvermögen etwas
von seinem schon angewiesenen Eigenthum geraubt werde.
Weder das Gewissen noch der Syllogismus besitzen Ge-
wandtheit genug, um sich in eine für sie nicht passende
Gesellschaft zu fügen und zu schicken; eine solche aber
schienen diese beyden, einander gewiss sehr ungleichar-
tigen Gegenstände, jeder dem andern, zu leisten; was
Wunder also, wenn endlich beyde den Platz räumen
mussten, und der neuerdings erfundenen intellectualen
Anschauung
überlassen wurde, das Wort Vernunft
zu ihrem Schmuck zu gebrauchen. -- Nach solchem

Verlangte zu leisten, und für die ihr angehängten Mei-
nungen Bürgschaft zu übernehmen. Die Logik redet von
Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Daraus machte man
drey verborgene Qualitäten der Seele, ein Vermögen zu
begreifen, ein anderes zu urtheilen, ein drittes zu schlie-
ſsen. Nun fanden sich in der gemeinen Sprache die
Worte Verstand und Vernunft (intellectus et ratio);
diese muſsten doch etwas bedeuten, sie muſsten zu etwas
gebraucht werden. Wie konnte man sie besser anwen-
den, als indem man dem Verstande das Begreifen, der
Vernunft das Schlieſsen auftrug. Ein neuer Name für
das mittlere Vermögen zwischen beyden war nöthig —
und die Urtheilskraft wurde geschaffen.

Ein wenig später besann man sich, daſs noch einiges
Andere in dem menschlichen Vorstellen und Denken sich
ereigne, wofür auch Namen da seyn müſsten. Das Handeln
nach Ueberlegung, nach Gründen, besonders nach sittlichen
Maximen, wird im gemeinen Leben vernünftiges Handeln
genannt; also muſste die Vernunft nicht bloſs theoretisch
seyn, sondern auch praktisch. So wurde das Vermögen
zu Syllogismen, zugleich das Vermögen der obersten
praktischen Gesetzgebung, — und nun entstand die Auf-
gabe, nachzuweisen, was für eine wirkliche, nicht bloſs
logische, Gemeinschaft, was für eine reale Einheit sich
möge ausdenken lassen, woraus der Syllogismus und das
Gewissen zusammengenommen hervorgehn könnten, so
jedoch, daſs dabey keinem andern Seelenvermögen etwas
von seinem schon angewiesenen Eigenthum geraubt werde.
Weder das Gewissen noch der Syllogismus besitzen Ge-
wandtheit genug, um sich in eine für sie nicht passende
Gesellschaft zu fügen und zu schicken; eine solche aber
schienen diese beyden, einander gewiſs sehr ungleichar-
tigen Gegenstände, jeder dem andern, zu leisten; was
Wunder also, wenn endlich beyde den Platz räumen
muſsten, und der neuerdings erfundenen intellectualen
Anschauung
überlassen wurde, das Wort Vernunft
zu ihrem Schmuck zu gebrauchen. — Nach solchem

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[172/0207] Verlangte zu leisten, und für die ihr angehängten Mei- nungen Bürgschaft zu übernehmen. Die Logik redet von Begriffen, Urtheilen, Schlüssen. Daraus machte man drey verborgene Qualitäten der Seele, ein Vermögen zu begreifen, ein anderes zu urtheilen, ein drittes zu schlie- ſsen. Nun fanden sich in der gemeinen Sprache die Worte Verstand und Vernunft (intellectus et ratio); diese muſsten doch etwas bedeuten, sie muſsten zu etwas gebraucht werden. Wie konnte man sie besser anwen- den, als indem man dem Verstande das Begreifen, der Vernunft das Schlieſsen auftrug. Ein neuer Name für das mittlere Vermögen zwischen beyden war nöthig — und die Urtheilskraft wurde geschaffen. Ein wenig später besann man sich, daſs noch einiges Andere in dem menschlichen Vorstellen und Denken sich ereigne, wofür auch Namen da seyn müſsten. Das Handeln nach Ueberlegung, nach Gründen, besonders nach sittlichen Maximen, wird im gemeinen Leben vernünftiges Handeln genannt; also muſste die Vernunft nicht bloſs theoretisch seyn, sondern auch praktisch. So wurde das Vermögen zu Syllogismen, zugleich das Vermögen der obersten praktischen Gesetzgebung, — und nun entstand die Auf- gabe, nachzuweisen, was für eine wirkliche, nicht bloſs logische, Gemeinschaft, was für eine reale Einheit sich möge ausdenken lassen, woraus der Syllogismus und das Gewissen zusammengenommen hervorgehn könnten, so jedoch, daſs dabey keinem andern Seelenvermögen etwas von seinem schon angewiesenen Eigenthum geraubt werde. Weder das Gewissen noch der Syllogismus besitzen Ge- wandtheit genug, um sich in eine für sie nicht passende Gesellschaft zu fügen und zu schicken; eine solche aber schienen diese beyden, einander gewiſs sehr ungleichar- tigen Gegenstände, jeder dem andern, zu leisten; was Wunder also, wenn endlich beyde den Platz räumen muſsten, und der neuerdings erfundenen intellectualen Anschauung überlassen wurde, das Wort Vernunft zu ihrem Schmuck zu gebrauchen. — Nach solchem

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/207>, abgerufen am 20.04.2024.