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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Lehre von den Begriffen vorbereiten zu müssen durch
die vom Verstande, gleich als ob in der Reihe unserer
Erkenntnisse der Verstand den Begriffen voranstünde,
während kein Mensch vom Verstande reden würde, wüsste
er nicht zuvor, was Begriffe sind, und was begreifen
und verstehen heisst. Man kann, wenn es nöthig scheint,
durch eine vollständige Induction beweisen, dass keine
einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar ange-
hörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordina-
tionen der Begriffe bis zu den Kettenschlüssen, irgend
etwas psychologisches voraussetze. Die ganze reine Lo-
gik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des
Inhalts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speciell mit
diesem Inhalte selbst) zu thun; aber überall nirgends mit
der Thätigkeit des Denkens, nirgends mit der psy-
chologischen, also metaphysischen, Möglichkeit desselben.
Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die
angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, in
so fern nämlich als der Stoff seiner Beschaffenheit nach
erwogen seyn muss, den man, den gegebenen Vorschrif-
ten gemäss, bilden will.

Damit nun aber doch in die Worte Verstand und
Vernunft ein Sinn hineinkomme, oder besser, damit
man denjenigen Sinn dieser Worte erkenne, welcher
allen denen gemeinschaftlich vorschwebt, die sich übri-
gens mit ganz verschiedenen Neben-Bestimmungen der-
selben bedienen: wäre es dienlich gewesen, zu bedenken,
dass man den Verstand von der Sinnlichkeit als etwas
Höheres zu unterscheiden, die Vernunft aber der-
selben als etwas sie besiegendes entgegenzusetzen
pflegt. Verstand und Sinnlichkeit bestehen mit einan-
der, indem jener ausarbeitet, was diese darbietet. Ver-
nunft
und Sinnlichkeit dürfen einander nicht zu nahe
kommen, sonst leugnet jene, was diese behauptet; und
verbietet die eine, was die andere fordert. Hiemit tref-
fen die im §. 117. und schon in der Einleitung gegebe-
nen Erklärungen zusammen; in so fern nach denselben

Lehre von den Begriffen vorbereiten zu müssen durch
die vom Verstande, gleich als ob in der Reihe unserer
Erkenntnisse der Verstand den Begriffen voranstünde,
während kein Mensch vom Verstande reden würde, wüſste
er nicht zuvor, was Begriffe sind, und was begreifen
und verstehen heiſst. Man kann, wenn es nöthig scheint,
durch eine vollständige Induction beweisen, daſs keine
einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar ange-
hörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordina-
tionen der Begriffe bis zu den Kettenschlüssen, irgend
etwas psychologisches voraussetze. Die ganze reine Lo-
gik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des
Inhalts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speciell mit
diesem Inhalte selbst) zu thun; aber überall nirgends mit
der Thätigkeit des Denkens, nirgends mit der psy-
chologischen, also metaphysischen, Möglichkeit desselben.
Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die
angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, in
so fern nämlich als der Stoff seiner Beschaffenheit nach
erwogen seyn muſs, den man, den gegebenen Vorschrif-
ten gemäſs, bilden will.

Damit nun aber doch in die Worte Verstand und
Vernunft ein Sinn hineinkomme, oder besser, damit
man denjenigen Sinn dieser Worte erkenne, welcher
allen denen gemeinschaftlich vorschwebt, die sich übri-
gens mit ganz verschiedenen Neben-Bestimmungen der-
selben bedienen: wäre es dienlich gewesen, zu bedenken,
daſs man den Verstand von der Sinnlichkeit als etwas
Höheres zu unterscheiden, die Vernunft aber der-
selben als etwas sie besiegendes entgegenzusetzen
pflegt. Verstand und Sinnlichkeit bestehen mit einan-
der, indem jener ausarbeitet, was diese darbietet. Ver-
nunft
und Sinnlichkeit dürfen einander nicht zu nahe
kommen, sonst leugnet jene, was diese behauptet; und
verbietet die eine, was die andere fordert. Hiemit tref-
fen die im §. 117. und schon in der Einleitung gegebe-
nen Erklärungen zusammen; in so fern nach denselben

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[174/0209] Lehre von den Begriffen vorbereiten zu müssen durch die vom Verstande, gleich als ob in der Reihe unserer Erkenntnisse der Verstand den Begriffen voranstünde, während kein Mensch vom Verstande reden würde, wüſste er nicht zuvor, was Begriffe sind, und was begreifen und verstehen heiſst. Man kann, wenn es nöthig scheint, durch eine vollständige Induction beweisen, daſs keine einzige von allen, der reinen Logik unbestreitbar ange- hörigen Lehren, von den Oppositionen und Subordina- tionen der Begriffe bis zu den Kettenschlüssen, irgend etwas psychologisches voraussetze. Die ganze reine Lo- gik hat es mit Verhältnissen des Gedachten, des Inhalts unserer Vorstellungen (obgleich nicht speciell mit diesem Inhalte selbst) zu thun; aber überall nirgends mit der Thätigkeit des Denkens, nirgends mit der psy- chologischen, also metaphysischen, Möglichkeit desselben. Erst die angewandte Logik bedarf, gerade so wie die angewandte Sittenlehre, psychologischer Kenntnisse, in so fern nämlich als der Stoff seiner Beschaffenheit nach erwogen seyn muſs, den man, den gegebenen Vorschrif- ten gemäſs, bilden will. Damit nun aber doch in die Worte Verstand und Vernunft ein Sinn hineinkomme, oder besser, damit man denjenigen Sinn dieser Worte erkenne, welcher allen denen gemeinschaftlich vorschwebt, die sich übri- gens mit ganz verschiedenen Neben-Bestimmungen der- selben bedienen: wäre es dienlich gewesen, zu bedenken, daſs man den Verstand von der Sinnlichkeit als etwas Höheres zu unterscheiden, die Vernunft aber der- selben als etwas sie besiegendes entgegenzusetzen pflegt. Verstand und Sinnlichkeit bestehen mit einan- der, indem jener ausarbeitet, was diese darbietet. Ver- nunft und Sinnlichkeit dürfen einander nicht zu nahe kommen, sonst leugnet jene, was diese behauptet; und verbietet die eine, was die andere fordert. Hiemit tref- fen die im §. 117. und schon in der Einleitung gegebe- nen Erklärungen zusammen; in so fern nach denselben

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/209>, abgerufen am 18.04.2024.