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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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werden; indem sie wenigstens grossentheils gleichzeitig,
und überdies durch verschiedene Sinne aufgefasst werden,
deren Vorstellungs-Reihen sich unter einander nicht hem-
men. (Vergl. §. 57. u. s. w.) Aber vollkommene Com-
plexionen bleiben sich in allen ihren Zuständen immer
ähnlich. (§. 61.) Daher kann in der Total-Vorstellung
aller ähnlichen Gegenstände das Unähnliche aus den voll-
kommenen Complexionen nicht nur nicht entweichen; es
kann auch nicht einmal zu dem mit ihm complicirten
Aehnlichen ein anderes, als sein ursprüngliches Verhält-
niss annehmen. Aus diesem Grunde bleibt immer viel
fremdartiger Zusatz bey der Total-Vorstellung, der sie
hindert, dem wahrhaften allgemeinen Begriffe recht nahe
zu kommen. Um diese zu erreichen, bedarf es hinten-
nach einer absichtlichen, ja selbst einer wissenschaftlichen
Bearbeitung.

Allein eine merkwürdige Annäherung an das Allge-
meine durch die Vorstellungsart des Viclfältigen darf
hier nicht übergangen werden.

Zuerst sey von einer gewissen Art von Dingen ein
einzelnes Exemplar wahrgenommen. Dann werde von
der nämlichen Art eine Menge beysammen gefunden.
So verschmilzt die einzelne frühere, jetzt reproducirte
Vorstellung, mit jeder von den jetzt gegebenen. Wie-
derum erscheine ein einziges Exemplar derselben Art.
So verschmelzen sämmtliche zuvor gegebene mit diesem
einzelnen. Es ist sichtbar, wie sich hier die Vorstellung
von Vielem, und von Einem unter Vielen erzeugt.
Und gewiss ist dieses der Nothbehelf, dessen sich der
ungebildete Mensch anstatt der allgemeinen Begriffe
durchgängig bedient. Er sieht ein Haus, und erkennt es
für ein Haus; aber schon die Sprache erinnert durch den
unbestimmten Artikel, dass hier keine logische Subsum-
tion des Hauses unter den zugehörigen, streng-allgemei-
nen Begriff, vor sich gehe; sondern dass dieses Haus
als Eins unter Vielen, aufgefasst werde; als Eins, wobey
die Bilder vieler zuvor gesehenen Häuser sich ins Be-

werden; indem sie wenigstens groſsentheils gleichzeitig,
und überdies durch verschiedene Sinne aufgefaſst werden,
deren Vorstellungs-Reihen sich unter einander nicht hem-
men. (Vergl. §. 57. u. s. w.) Aber vollkommene Com-
plexionen bleiben sich in allen ihren Zuständen immer
ähnlich. (§. 61.) Daher kann in der Total-Vorstellung
aller ähnlichen Gegenstände das Unähnliche aus den voll-
kommenen Complexionen nicht nur nicht entweichen; es
kann auch nicht einmal zu dem mit ihm complicirten
Aehnlichen ein anderes, als sein ursprüngliches Verhält-
niſs annehmen. Aus diesem Grunde bleibt immer viel
fremdartiger Zusatz bey der Total-Vorstellung, der sie
hindert, dem wahrhaften allgemeinen Begriffe recht nahe
zu kommen. Um diese zu erreichen, bedarf es hinten-
nach einer absichtlichen, ja selbst einer wissenschaftlichen
Bearbeitung.

Allein eine merkwürdige Annäherung an das Allge-
meine durch die Vorstellungsart des Viclfältigen darf
hier nicht übergangen werden.

Zuerst sey von einer gewissen Art von Dingen ein
einzelnes Exemplar wahrgenommen. Dann werde von
der nämlichen Art eine Menge beysammen gefunden.
So verschmilzt die einzelne frühere, jetzt reproducirte
Vorstellung, mit jeder von den jetzt gegebenen. Wie-
derum erscheine ein einziges Exemplar derselben Art.
So verschmelzen sämmtliche zuvor gegebene mit diesem
einzelnen. Es ist sichtbar, wie sich hier die Vorstellung
von Vielem, und von Einem unter Vielen erzeugt.
Und gewiſs ist dieses der Nothbehelf, dessen sich der
ungebildete Mensch anstatt der allgemeinen Begriffe
durchgängig bedient. Er sieht ein Haus, und erkennt es
für ein Haus; aber schon die Sprache erinnert durch den
unbestimmten Artikel, daſs hier keine logische Subsum-
tion des Hauses unter den zugehörigen, streng-allgemei-
nen Begriff, vor sich gehe; sondern daſs dieses Haus
als Eins unter Vielen, aufgefaſst werde; als Eins, wobey
die Bilder vieler zuvor gesehenen Häuser sich ins Be-

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[184/0219] werden; indem sie wenigstens groſsentheils gleichzeitig, und überdies durch verschiedene Sinne aufgefaſst werden, deren Vorstellungs-Reihen sich unter einander nicht hem- men. (Vergl. §. 57. u. s. w.) Aber vollkommene Com- plexionen bleiben sich in allen ihren Zuständen immer ähnlich. (§. 61.) Daher kann in der Total-Vorstellung aller ähnlichen Gegenstände das Unähnliche aus den voll- kommenen Complexionen nicht nur nicht entweichen; es kann auch nicht einmal zu dem mit ihm complicirten Aehnlichen ein anderes, als sein ursprüngliches Verhält- niſs annehmen. Aus diesem Grunde bleibt immer viel fremdartiger Zusatz bey der Total-Vorstellung, der sie hindert, dem wahrhaften allgemeinen Begriffe recht nahe zu kommen. Um diese zu erreichen, bedarf es hinten- nach einer absichtlichen, ja selbst einer wissenschaftlichen Bearbeitung. Allein eine merkwürdige Annäherung an das Allge- meine durch die Vorstellungsart des Viclfältigen darf hier nicht übergangen werden. Zuerst sey von einer gewissen Art von Dingen ein einzelnes Exemplar wahrgenommen. Dann werde von der nämlichen Art eine Menge beysammen gefunden. So verschmilzt die einzelne frühere, jetzt reproducirte Vorstellung, mit jeder von den jetzt gegebenen. Wie- derum erscheine ein einziges Exemplar derselben Art. So verschmelzen sämmtliche zuvor gegebene mit diesem einzelnen. Es ist sichtbar, wie sich hier die Vorstellung von Vielem, und von Einem unter Vielen erzeugt. Und gewiſs ist dieses der Nothbehelf, dessen sich der ungebildete Mensch anstatt der allgemeinen Begriffe durchgängig bedient. Er sieht ein Haus, und erkennt es für ein Haus; aber schon die Sprache erinnert durch den unbestimmten Artikel, daſs hier keine logische Subsum- tion des Hauses unter den zugehörigen, streng-allgemei- nen Begriff, vor sich gehe; sondern daſs dieses Haus als Eins unter Vielen, aufgefaſst werde; als Eins, wobey die Bilder vieler zuvor gesehenen Häuser sich ins Be-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/219>, abgerufen am 29.03.2024.