Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

Bild:
<< vorherige Seite

keine vermag an der Stelle der andern auch nur das Ge-
ringste zu leisten; hier so wenig, als in der Lehre von
Raum, Zeit, und Substanz. Beydes muss streng geschie-
den werden; denn jedes ist dem andern nur wenig ähnlich.

Es giebt Stellen in Menge bey Kant, die es verra-
then, dass er sich von einer Forderung gedrückt fühlte,
welche anzuerkennen er sich gewaltsam sträubte. Z. B.
in den Prolegomenen §. 27.; wo er von Humes Zwei-
feln spricht, und hinzusetzt: "wir sehen eben so wenig
"den Begriff der Subsistenz ein, ja wir können uns keinen
"Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges, (einer
"Substanz) machen und eben diese Unbegreiflich-
"keit trifft auch die Gemeinschaft der Dinge
,
"indem gar nicht einzusehn ist, wie aus dem Zustande
"eines Dinges eine Folge auf den Zustand ganz ande-
"rer
Dinge ausser ihm, und so wechselseitig, könne ge-
"zogen werden, und wie Substanzen, deren jede doch
"ihre eigene abgesonderte Existenz hat
, von ein-
"ander, und zwar nothwendig, abhängen sollen." Oder
noch viel stärker in der Vernunftkritik, in der Anmer-
kung zum Systeme der Grundsätze, S. 291. "Verän-
"derung ist Verbindung contradictorisch einan-
"der entgegengesetzter Bestimmungen im Da-
"seyn eines und desselben Dinges. Wie es nun
"möglich ist, dass aus einem gegebenen Zu-
"stande ein ihm entgegengesetzter desselben
"Dinges folge, kann nicht allein keine Ver-
"nunft sich ohne Beyspiel begreiflich, sondern
"nicht einmal ohne Anschauung verständlich
"machen;
und diese Anschauung ist -- die der
"Bewegung eines Puncts im Raume
"!!!

Also ein Beyspiel besitzt die ungeheure Kraft, das
Unbegreifliche begreiflich, eine Anschauung, das Un-
verständliche verständlich zu machen! Und dieses Bey-
spiel ist die Bewegung im Raume; welche, wenn auch
nicht der Eleatische Zeno ihre Ungereimtheit deutlich
genug gezeigt hätte, doch hier ein ganz und gar untaug-

keine vermag an der Stelle der andern auch nur das Ge-
ringste zu leisten; hier so wenig, als in der Lehre von
Raum, Zeit, und Substanz. Beydes muſs streng geschie-
den werden; denn jedes ist dem andern nur wenig ähnlich.

Es giebt Stellen in Menge bey Kant, die es verra-
then, daſs er sich von einer Forderung gedrückt fühlte,
welche anzuerkennen er sich gewaltsam sträubte. Z. B.
in den Prolegomenen §. 27.; wo er von Humes Zwei-
feln spricht, und hinzusetzt: „wir sehen eben so wenig
„den Begriff der Subsistenz ein, ja wir können uns keinen
„Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges, (einer
„Substanz) machen und eben diese Unbegreiflich-
„keit trifft auch die Gemeinschaft der Dinge
,
„indem gar nicht einzusehn ist, wie aus dem Zustande
eines Dinges eine Folge auf den Zustand ganz ande-
„rer
Dinge auſser ihm, und so wechselseitig, könne ge-
„zogen werden, und wie Substanzen, deren jede doch
„ihre eigene abgesonderte Existenz hat
, von ein-
„ander, und zwar nothwendig, abhängen sollen.“ Oder
noch viel stärker in der Vernunftkritik, in der Anmer-
kung zum Systeme der Grundsätze, S. 291. „Verän-
„derung ist Verbindung contradictorisch einan-
„der entgegengesetzter Bestimmungen im Da-
„seyn eines und desselben Dinges. Wie es nun
„möglich ist, daſs aus einem gegebenen Zu-
„stande ein ihm entgegengesetzter desselben
„Dinges folge, kann nicht allein keine Ver-
„nunft sich ohne Beyspiel begreiflich, sondern
„nicht einmal ohne Anschauung verständlich
„machen;
und diese Anschauung ist — die der
„Bewegung eines Puncts im Raume
“!!!

Also ein Beyspiel besitzt die ungeheure Kraft, das
Unbegreifliche begreiflich, eine Anschauung, das Un-
verständliche verständlich zu machen! Und dieses Bey-
spiel ist die Bewegung im Raume; welche, wenn auch
nicht der Eleatische Zeno ihre Ungereimtheit deutlich
genug gezeigt hätte, doch hier ein ganz und gar untaug-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0361" n="326"/>
keine vermag an der Stelle der andern auch nur das Ge-<lb/>
ringste zu leisten; hier so wenig, als in der Lehre von<lb/>
Raum, Zeit, und Substanz. Beydes mu&#x017F;s streng geschie-<lb/>
den werden; denn jedes ist dem andern nur wenig ähnlich.</p><lb/>
              <p>Es giebt Stellen in Menge bey <hi rendition="#g">Kant</hi>, die es verra-<lb/>
then, da&#x017F;s er sich von einer Forderung gedrückt fühlte,<lb/>
welche anzuerkennen er sich gewaltsam sträubte. Z. B.<lb/>
in den Prolegomenen §. 27.; wo er von <hi rendition="#g">Humes</hi> Zwei-<lb/>
feln spricht, und hinzusetzt: &#x201E;wir sehen eben so wenig<lb/>
&#x201E;den Begriff der Subsistenz ein, ja wir können uns keinen<lb/>
&#x201E;Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges, (einer<lb/>
&#x201E;Substanz) machen und <hi rendition="#g">eben diese Unbegreiflich-<lb/>
&#x201E;keit trifft auch die Gemeinschaft der Dinge</hi>,<lb/>
&#x201E;indem gar nicht einzusehn ist, wie aus dem Zustande<lb/>
&#x201E;<hi rendition="#g">eines</hi> Dinges eine Folge auf den Zustand <hi rendition="#g">ganz ande-<lb/>
&#x201E;rer</hi> Dinge au&#x017F;ser ihm, und so wechselseitig, könne ge-<lb/>
&#x201E;zogen werden, und wie Substanzen, <hi rendition="#g">deren jede doch<lb/>
&#x201E;ihre eigene abgesonderte Existenz hat</hi>, von ein-<lb/>
&#x201E;ander, und zwar nothwendig, <hi rendition="#g">abhängen</hi> sollen.&#x201C; Oder<lb/>
noch viel stärker in der Vernunftkritik, in der Anmer-<lb/>
kung zum Systeme der Grundsätze, S. 291. &#x201E;<hi rendition="#g">Verän-<lb/>
&#x201E;derung ist Verbindung contradictorisch einan-<lb/>
&#x201E;der entgegengesetzter Bestimmungen im Da-<lb/>
&#x201E;seyn eines und desselben Dinges. <hi rendition="#i">Wie es nun<lb/>
&#x201E;möglich ist, da&#x017F;s aus einem gegebenen Zu-<lb/>
&#x201E;stande ein ihm entgegengesetzter desselben<lb/>
&#x201E;Dinges folge, kann nicht allein keine Ver-<lb/>
&#x201E;nunft sich ohne Beyspiel begreiflich, sondern<lb/>
&#x201E;nicht einmal ohne Anschauung verständlich<lb/>
&#x201E;machen;</hi> und diese Anschauung ist &#x2014; die der<lb/>
&#x201E;Bewegung eines Puncts im Raume</hi>&#x201C;!!!</p><lb/>
              <p>Also ein <hi rendition="#g">Beyspiel</hi> besitzt die ungeheure Kraft, das<lb/>
Unbegreifliche begreiflich, eine <hi rendition="#g">Anschauung</hi>, das Un-<lb/>
verständliche verständlich zu machen! Und dieses Bey-<lb/>
spiel ist die Bewegung im Raume; welche, wenn auch<lb/>
nicht der Eleatische Zeno ihre Ungereimtheit deutlich<lb/>
genug gezeigt hätte, doch hier ein ganz und gar untaug-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0361] keine vermag an der Stelle der andern auch nur das Ge- ringste zu leisten; hier so wenig, als in der Lehre von Raum, Zeit, und Substanz. Beydes muſs streng geschie- den werden; denn jedes ist dem andern nur wenig ähnlich. Es giebt Stellen in Menge bey Kant, die es verra- then, daſs er sich von einer Forderung gedrückt fühlte, welche anzuerkennen er sich gewaltsam sträubte. Z. B. in den Prolegomenen §. 27.; wo er von Humes Zwei- feln spricht, und hinzusetzt: „wir sehen eben so wenig „den Begriff der Subsistenz ein, ja wir können uns keinen „Begriff von der Möglichkeit eines solchen Dinges, (einer „Substanz) machen und eben diese Unbegreiflich- „keit trifft auch die Gemeinschaft der Dinge, „indem gar nicht einzusehn ist, wie aus dem Zustande „eines Dinges eine Folge auf den Zustand ganz ande- „rer Dinge auſser ihm, und so wechselseitig, könne ge- „zogen werden, und wie Substanzen, deren jede doch „ihre eigene abgesonderte Existenz hat, von ein- „ander, und zwar nothwendig, abhängen sollen.“ Oder noch viel stärker in der Vernunftkritik, in der Anmer- kung zum Systeme der Grundsätze, S. 291. „Verän- „derung ist Verbindung contradictorisch einan- „der entgegengesetzter Bestimmungen im Da- „seyn eines und desselben Dinges. Wie es nun „möglich ist, daſs aus einem gegebenen Zu- „stande ein ihm entgegengesetzter desselben „Dinges folge, kann nicht allein keine Ver- „nunft sich ohne Beyspiel begreiflich, sondern „nicht einmal ohne Anschauung verständlich „machen; und diese Anschauung ist — die der „Bewegung eines Puncts im Raume“!!! Also ein Beyspiel besitzt die ungeheure Kraft, das Unbegreifliche begreiflich, eine Anschauung, das Un- verständliche verständlich zu machen! Und dieses Bey- spiel ist die Bewegung im Raume; welche, wenn auch nicht der Eleatische Zeno ihre Ungereimtheit deutlich genug gezeigt hätte, doch hier ein ganz und gar untaug-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/361
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/361>, abgerufen am 25.04.2024.