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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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der Breite, und beyden die Dicke entgegenzusetzen: so
lange kann auch die Frage nicht erwachen, ob das räum-
liche Reale eine Dicke haben müsse, oder nicht? Denn
so lange ist der Begriff einer blossen Oberfläche, ohne
Dicke
, noch gar nicht vorhanden. Es ist der Versuch
noch gar nicht gemacht, eine blosse Fläche als real der-
gestalt
zu denken, dass ihr ausdrücklich und mit
Bewusstseyn
die Dicke abgesprochen werde. -- So-
bald hingegen der Gedanke eines solchen Versuchs ent-
steht, ergiebt sich die Unmöglichkeit sogleich aus dem
Begriffe der Fläche. Denn diese, wenn sie als eine
Scheidewand zwischen demjenigen betrachtet wird, was
sich zu beyden Seiten befindet, erscheint sogleich als ein
völliges Nichts; sie hat nichts dazwischen zu stellen,
sonst müsste ihr eine Dicke zugeschrieben werden. Ist
einmal das Reale in den Raum gesetzt, so wird auch
sein Quantum nach der Grösse des Raums geschätzt,
den es einnimmt. Kann nun sein Platz durch ein Zu-
sammenrücken andrer Dinge von zwey entgegengesetzten
Seiten her, als ein völliges Nichts dargestellt werden, in-
dem es diesen Dingen frey steht, sich bis zur Berührung
zu nähern, so hat das Ding gar keinen Platz; es ist also
kein Reales von räumlicher Art.

Verbindet man mit dieser Betrachtung die obige, im
§. 113.; welcher zufolge der Raum aus psychologischen
Gründen als unendlich theilbar vorgestellt wird, so dass
es in ihm nicht, wie in den Linien des intelligibelen
Raums der allgemeinen Metaphysik, einfache Bestand-
theile giebt: so zeigt sich, dass das Solide, da es den
geometrischen Puncten, Linien, Flächen, nicht gleichen
kann, nothwendig als ein Ausgedehntes, als unend-
lich theilbare
und undurchdringliche Materie
muss gedacht werden. Und in diesem Begriffe stecken
nun alle die Schwierigkeiten, welche durch das nachma-
lige metaphysische Denken zu Tage kommen, und in den
Streitigkeiten über Atomen und Molecülen mannigfaltig
umhergewälzt werden.

der Breite, und beyden die Dicke entgegenzusetzen: so
lange kann auch die Frage nicht erwachen, ob das räum-
liche Reale eine Dicke haben müsse, oder nicht? Denn
so lange ist der Begriff einer bloſsen Oberfläche, ohne
Dicke
, noch gar nicht vorhanden. Es ist der Versuch
noch gar nicht gemacht, eine bloſse Fläche als real der-
gestalt
zu denken, daſs ihr ausdrücklich und mit
Bewuſstseyn
die Dicke abgesprochen werde. — So-
bald hingegen der Gedanke eines solchen Versuchs ent-
steht, ergiebt sich die Unmöglichkeit sogleich aus dem
Begriffe der Fläche. Denn diese, wenn sie als eine
Scheidewand zwischen demjenigen betrachtet wird, was
sich zu beyden Seiten befindet, erscheint sogleich als ein
völliges Nichts; sie hat nichts dazwischen zu stellen,
sonst müſste ihr eine Dicke zugeschrieben werden. Ist
einmal das Reale in den Raum gesetzt, so wird auch
sein Quantum nach der Gröſse des Raums geschätzt,
den es einnimmt. Kann nun sein Platz durch ein Zu-
sammenrücken andrer Dinge von zwey entgegengesetzten
Seiten her, als ein völliges Nichts dargestellt werden, in-
dem es diesen Dingen frey steht, sich bis zur Berührung
zu nähern, so hat das Ding gar keinen Platz; es ist also
kein Reales von räumlicher Art.

Verbindet man mit dieser Betrachtung die obige, im
§. 113.; welcher zufolge der Raum aus psychologischen
Gründen als unendlich theilbar vorgestellt wird, so daſs
es in ihm nicht, wie in den Linien des intelligibelen
Raums der allgemeinen Metaphysik, einfache Bestand-
theile giebt: so zeigt sich, daſs das Solide, da es den
geometrischen Puncten, Linien, Flächen, nicht gleichen
kann, nothwendig als ein Ausgedehntes, als unend-
lich theilbare
und undurchdringliche Materie
muſs gedacht werden. Und in diesem Begriffe stecken
nun alle die Schwierigkeiten, welche durch das nachma-
lige metaphysische Denken zu Tage kommen, und in den
Streitigkeiten über Atomen und Molecülen mannigfaltig
umhergewälzt werden.

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[351/0386] der Breite, und beyden die Dicke entgegenzusetzen: so lange kann auch die Frage nicht erwachen, ob das räum- liche Reale eine Dicke haben müsse, oder nicht? Denn so lange ist der Begriff einer bloſsen Oberfläche, ohne Dicke, noch gar nicht vorhanden. Es ist der Versuch noch gar nicht gemacht, eine bloſse Fläche als real der- gestalt zu denken, daſs ihr ausdrücklich und mit Bewuſstseyn die Dicke abgesprochen werde. — So- bald hingegen der Gedanke eines solchen Versuchs ent- steht, ergiebt sich die Unmöglichkeit sogleich aus dem Begriffe der Fläche. Denn diese, wenn sie als eine Scheidewand zwischen demjenigen betrachtet wird, was sich zu beyden Seiten befindet, erscheint sogleich als ein völliges Nichts; sie hat nichts dazwischen zu stellen, sonst müſste ihr eine Dicke zugeschrieben werden. Ist einmal das Reale in den Raum gesetzt, so wird auch sein Quantum nach der Gröſse des Raums geschätzt, den es einnimmt. Kann nun sein Platz durch ein Zu- sammenrücken andrer Dinge von zwey entgegengesetzten Seiten her, als ein völliges Nichts dargestellt werden, in- dem es diesen Dingen frey steht, sich bis zur Berührung zu nähern, so hat das Ding gar keinen Platz; es ist also kein Reales von räumlicher Art. Verbindet man mit dieser Betrachtung die obige, im §. 113.; welcher zufolge der Raum aus psychologischen Gründen als unendlich theilbar vorgestellt wird, so daſs es in ihm nicht, wie in den Linien des intelligibelen Raums der allgemeinen Metaphysik, einfache Bestand- theile giebt: so zeigt sich, daſs das Solide, da es den geometrischen Puncten, Linien, Flächen, nicht gleichen kann, nothwendig als ein Ausgedehntes, als unend- lich theilbare und undurchdringliche Materie muſs gedacht werden. Und in diesem Begriffe stecken nun alle die Schwierigkeiten, welche durch das nachma- lige metaphysische Denken zu Tage kommen, und in den Streitigkeiten über Atomen und Molecülen mannigfaltig umhergewälzt werden.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/386>, abgerufen am 29.03.2024.