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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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heit, als ein beynahe wahnsinniges Vorüberrennen vor
den lieblichsten, einladendsten Geniessungen, welche die
Natur mit gütigen und mit vollen Händen für den Men-
schen ausspende. So entsteht eine Glückseligkeitslehre,
welche überall umhergeht um zu warnen, man möge dem
Ausbruch der Leidenschaften vorbeugen, und sich nicht
in die heillosen Wirbel eines sich selbst verzehrenden
Strebens stürzen. Wer wollte diesen Warnungen nicht
Gehör geben? Nämlich so lange er noch nicht selbst
von der Leidenschaft ergriffen ist? -- Denn wen die
Wuth schon fortreisst, der ist taub gegen alle Glückse-
ligkeitslehre; er muss erst still werden, um sie wieder
zu vernehmen.

So entsteht der erste Gegensatz zwischen der Moral
und dem gemeinen Leben. Allein die Glückseligkeitslehre
kann ihr eignes Fundament nicht klar nachweisen. Sie
behauptet zwar ihr Recht, so lange sie streitet wider Lei-
denschaften und zügellose Begierden; aber sie verliert
ihr Spiel, sobald sie selbstständig auftreten will. Sie
gleicht den Menschen, die auf einer niedern Stufe glän-
zen, auf einer höhern ihre Blössen zu Schau stellen.
Sie versucht umsonst, das Object ihrer Weisungen, die
Glückseligkeit, vor unsere Augen zu bringen; sie erin-
nert uns an unsere Gefühle von Freude und Schmerz,
und wir entdecken sogleich das Unstete, nur im Fluge
Geniessbare der erstern, das Erträgliche und wenig Furcht-
bare des andern, sobald irgend ein ernster Zweck uns
wichtig genug scheint, um uns dem Leiden Preis zu ge-
ben. Daher muss wiederum, sobald von einer Sittenlehre
einmal die Rede ist, die Glückseligkeit den Platz räu-
men; und jetzt kann auf dem nämlichen Platze nichts
anderes bleiben, als diejenigen Maximen, nach welchen
wir selbst in unsern eignen Augen entweder verächtlich
und schändlich, oder würdig und löblich erscheinen. Diese
Maximen behaupten sich durch den Vorzug aller reinen
und ächten ästhetischen Urtheile, dass die Gegenstände,
worauf sie treffen, sich jederzeit deutlich hinstellen lassen,

heit, als ein beynahe wahnsinniges Vorüberrennen vor
den lieblichsten, einladendsten Genieſsungen, welche die
Natur mit gütigen und mit vollen Händen für den Men-
schen ausspende. So entsteht eine Glückseligkeitslehre,
welche überall umhergeht um zu warnen, man möge dem
Ausbruch der Leidenschaften vorbeugen, und sich nicht
in die heillosen Wirbel eines sich selbst verzehrenden
Strebens stürzen. Wer wollte diesen Warnungen nicht
Gehör geben? Nämlich so lange er noch nicht selbst
von der Leidenschaft ergriffen ist? — Denn wen die
Wuth schon fortreiſst, der ist taub gegen alle Glückse-
ligkeitslehre; er muſs erst still werden, um sie wieder
zu vernehmen.

So entsteht der erste Gegensatz zwischen der Moral
und dem gemeinen Leben. Allein die Glückseligkeitslehre
kann ihr eignes Fundament nicht klar nachweisen. Sie
behauptet zwar ihr Recht, so lange sie streitet wider Lei-
denschaften und zügellose Begierden; aber sie verliert
ihr Spiel, sobald sie selbstständig auftreten will. Sie
gleicht den Menschen, die auf einer niedern Stufe glän-
zen, auf einer höhern ihre Blöſsen zu Schau stellen.
Sie versucht umsonst, das Object ihrer Weisungen, die
Glückseligkeit, vor unsere Augen zu bringen; sie erin-
nert uns an unsere Gefühle von Freude und Schmerz,
und wir entdecken sogleich das Unstete, nur im Fluge
Genieſsbare der erstern, das Erträgliche und wenig Furcht-
bare des andern, sobald irgend ein ernster Zweck uns
wichtig genug scheint, um uns dem Leiden Preis zu ge-
ben. Daher muſs wiederum, sobald von einer Sittenlehre
einmal die Rede ist, die Glückseligkeit den Platz räu-
men; und jetzt kann auf dem nämlichen Platze nichts
anderes bleiben, als diejenigen Maximen, nach welchen
wir selbst in unsern eignen Augen entweder verächtlich
und schändlich, oder würdig und löblich erscheinen. Diese
Maximen behaupten sich durch den Vorzug aller reinen
und ächten ästhetischen Urtheile, daſs die Gegenstände,
worauf sie treffen, sich jederzeit deutlich hinstellen lassen,

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[422/0457] heit, als ein beynahe wahnsinniges Vorüberrennen vor den lieblichsten, einladendsten Genieſsungen, welche die Natur mit gütigen und mit vollen Händen für den Men- schen ausspende. So entsteht eine Glückseligkeitslehre, welche überall umhergeht um zu warnen, man möge dem Ausbruch der Leidenschaften vorbeugen, und sich nicht in die heillosen Wirbel eines sich selbst verzehrenden Strebens stürzen. Wer wollte diesen Warnungen nicht Gehör geben? Nämlich so lange er noch nicht selbst von der Leidenschaft ergriffen ist? — Denn wen die Wuth schon fortreiſst, der ist taub gegen alle Glückse- ligkeitslehre; er muſs erst still werden, um sie wieder zu vernehmen. So entsteht der erste Gegensatz zwischen der Moral und dem gemeinen Leben. Allein die Glückseligkeitslehre kann ihr eignes Fundament nicht klar nachweisen. Sie behauptet zwar ihr Recht, so lange sie streitet wider Lei- denschaften und zügellose Begierden; aber sie verliert ihr Spiel, sobald sie selbstständig auftreten will. Sie gleicht den Menschen, die auf einer niedern Stufe glän- zen, auf einer höhern ihre Blöſsen zu Schau stellen. Sie versucht umsonst, das Object ihrer Weisungen, die Glückseligkeit, vor unsere Augen zu bringen; sie erin- nert uns an unsere Gefühle von Freude und Schmerz, und wir entdecken sogleich das Unstete, nur im Fluge Genieſsbare der erstern, das Erträgliche und wenig Furcht- bare des andern, sobald irgend ein ernster Zweck uns wichtig genug scheint, um uns dem Leiden Preis zu ge- ben. Daher muſs wiederum, sobald von einer Sittenlehre einmal die Rede ist, die Glückseligkeit den Platz räu- men; und jetzt kann auf dem nämlichen Platze nichts anderes bleiben, als diejenigen Maximen, nach welchen wir selbst in unsern eignen Augen entweder verächtlich und schändlich, oder würdig und löblich erscheinen. Diese Maximen behaupten sich durch den Vorzug aller reinen und ächten ästhetischen Urtheile, daſs die Gegenstände, worauf sie treffen, sich jederzeit deutlich hinstellen lassen,

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/457>, abgerufen am 19.04.2024.