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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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er wuchs. Als der Druck, der von aussen her Alles zu-
sammenhielt, nachliess, brach das Unheil los. Blutver-
giessen in den Strassen Roms wurde nun Sitte. Die Im-
peratoren setzten die Sitte fort, so lange sie sich fürch-
teten. Die Furcht hörte späterhin auf, Ruhe trat ein,
(für eine Zeitlang,) aber kein wahrer Staat. Ein solcher
war auch nie vorhanden gewesen. Die erste Probe des
wahren Staates ist die, dass er den Frieden ertragen
könne.

Will man nun die Geschichte der Staaten begreifen:
so fange man vor allen Dingen damit an, die Kriege,
welche sie geführt haben, abgesondert zu betrachten,
und so genau als möglich die Wirkung des Druckes zu
schätzen, die dadurch angezeigt wird. Man gehe weiter,
und überlege die Furcht vor dem äussern Drucke, welche
mitten im Frieden, mitten im grössten Glanze noch übrig
bleibt. Und man wird finden, dass die meisten Staaten
eigentlich gar nicht wissen, was sie seyn würden, wenn
sie ganz allein stünden, ganz sich selbst überlassen wä-
ren. Eben so, wie der Mensch nicht weiss, wer er
seyn würde ausser aller Gesellschaft.

Es steht uns nun allerdings frey, in der Idee ei-
nen ganz allein stehenden Staat auszusinnen. Wollen
wir uns ein speculatives Vergnügen machen, -- und uns
dabey vor übereilten Anwendungen auf die Wirklichkeit
hüten, -- so können wir auch überlegen, wie wohl eine
Kraft beschaffen seyn müsste, die gegen den Misbrauch
der Macht den gesuchten Schutz leistete. Eine solche
Kraft müsste gar nicht von selbst activ seyn (wie die
Römischen Tribunen so oft gegen den Senat wirkten,)
sondern nur auf ausserordentliche Reizungen müsste sie
einen Gegendruck leisten, der seiner Natur nach nicht
über den vorgeschriebenen Punct hinausgehn könnte. --
Hiebey fallen mir die Gesetze der Verschmelzungshülfen
ein, die ich im ersten Theile beschrieben habe. Aber
wenn es auch gelingen könnte, daraus die psychologische
Natur der Sitte begreiflich zu machen: so ist doch der

er wuchs. Als der Druck, der von auſsen her Alles zu-
sammenhielt, nachlieſs, brach das Unheil los. Blutver-
gieſsen in den Straſsen Roms wurde nun Sitte. Die Im-
peratoren setzten die Sitte fort, so lange sie sich fürch-
teten. Die Furcht hörte späterhin auf, Ruhe trat ein,
(für eine Zeitlang,) aber kein wahrer Staat. Ein solcher
war auch nie vorhanden gewesen. Die erste Probe des
wahren Staates ist die, daſs er den Frieden ertragen
könne.

Will man nun die Geschichte der Staaten begreifen:
so fange man vor allen Dingen damit an, die Kriege,
welche sie geführt haben, abgesondert zu betrachten,
und so genau als möglich die Wirkung des Druckes zu
schätzen, die dadurch angezeigt wird. Man gehe weiter,
und überlege die Furcht vor dem äuſsern Drucke, welche
mitten im Frieden, mitten im gröſsten Glanze noch übrig
bleibt. Und man wird finden, daſs die meisten Staaten
eigentlich gar nicht wissen, was sie seyn würden, wenn
sie ganz allein stünden, ganz sich selbst überlassen wä-
ren. Eben so, wie der Mensch nicht weiſs, wer er
seyn würde auſser aller Gesellschaft.

Es steht uns nun allerdings frey, in der Idee ei-
nen ganz allein stehenden Staat auszusinnen. Wollen
wir uns ein speculatives Vergnügen machen, — und uns
dabey vor übereilten Anwendungen auf die Wirklichkeit
hüten, — so können wir auch überlegen, wie wohl eine
Kraft beschaffen seyn müſste, die gegen den Misbrauch
der Macht den gesuchten Schutz leistete. Eine solche
Kraft müſste gar nicht von selbst activ seyn (wie die
Römischen Tribunen so oft gegen den Senat wirkten,)
sondern nur auf auſserordentliche Reizungen müſste sie
einen Gegendruck leisten, der seiner Natur nach nicht
über den vorgeschriebenen Punct hinausgehn könnte. —
Hiebey fallen mir die Gesetze der Verschmelzungshülfen
ein, die ich im ersten Theile beschrieben habe. Aber
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[15/0050] er wuchs. Als der Druck, der von auſsen her Alles zu- sammenhielt, nachlieſs, brach das Unheil los. Blutver- gieſsen in den Straſsen Roms wurde nun Sitte. Die Im- peratoren setzten die Sitte fort, so lange sie sich fürch- teten. Die Furcht hörte späterhin auf, Ruhe trat ein, (für eine Zeitlang,) aber kein wahrer Staat. Ein solcher war auch nie vorhanden gewesen. Die erste Probe des wahren Staates ist die, daſs er den Frieden ertragen könne. Will man nun die Geschichte der Staaten begreifen: so fange man vor allen Dingen damit an, die Kriege, welche sie geführt haben, abgesondert zu betrachten, und so genau als möglich die Wirkung des Druckes zu schätzen, die dadurch angezeigt wird. Man gehe weiter, und überlege die Furcht vor dem äuſsern Drucke, welche mitten im Frieden, mitten im gröſsten Glanze noch übrig bleibt. Und man wird finden, daſs die meisten Staaten eigentlich gar nicht wissen, was sie seyn würden, wenn sie ganz allein stünden, ganz sich selbst überlassen wä- ren. Eben so, wie der Mensch nicht weiſs, wer er seyn würde auſser aller Gesellschaft. Es steht uns nun allerdings frey, in der Idee ei- nen ganz allein stehenden Staat auszusinnen. Wollen wir uns ein speculatives Vergnügen machen, — und uns dabey vor übereilten Anwendungen auf die Wirklichkeit hüten, — so können wir auch überlegen, wie wohl eine Kraft beschaffen seyn müſste, die gegen den Misbrauch der Macht den gesuchten Schutz leistete. Eine solche Kraft müſste gar nicht von selbst activ seyn (wie die Römischen Tribunen so oft gegen den Senat wirkten,) sondern nur auf auſserordentliche Reizungen müſste sie einen Gegendruck leisten, der seiner Natur nach nicht über den vorgeschriebenen Punct hinausgehn könnte. — Hiebey fallen mir die Gesetze der Verschmelzungshülfen ein, die ich im ersten Theile beschrieben habe. Aber wenn es auch gelingen könnte, daraus die psychologische Natur der Sitte begreiflich zu machen: so ist doch der

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/50>, abgerufen am 19.04.2024.