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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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selbst da, wo ein solcher Einfluss, wenn auch nur hypo-
thetisch, zu Hülfe gerufen wird, muss es auf wissenschaft-
liche, nicht phantastische Weise geschehen; ein Haupt-
punct, den ich sogleich mit Wenigem näher bezeich-
nen werde.

Der erste von den Geisteszuständen, die unverkenn-
bar physiologische Gründe haben, ist der Schlaf, sammt
seinem Gefährten, dem Traume. Beyde verbunden ge-
ben den Typus auch zu den meisten krankhaften Erschei-
nungen des Nachtwandelns, des Wahnsinns, des thieri-
schen Magnetismus. Daher sagt Reil: "Wir würden
"dem Bewusstseyn und dem Wahnsinn bald auf die Spur
"kommen, wenn wir erst wüssten, was Schlaf, was Wa-
"chen sey."*) Der erste Begriff aber, unter welchen
unvermeidlich der Schlaf gefasst wird, ist Negation der
sämmtlichen Thätigkeit des Vorstellens mit allen seinen
Modificationen. Und hieraus würde eine sehr einfache
Wegweisung für die Untersuchung folgen, wenn der
merkwürdige Umstand nicht wäre, dass das Eintreten des
Schlafs und sein Aufhören unter einander sehr ungleich
sind. Nämlich bald auf das vollkommene Wachen folgt
in der Regel der tiefe Schlaf; aber nicht eben so geht
wiederum dieser in jenes rückwärts über; sondern hier
schiebt der Traum sich ein, als ein allmähliges, partiel-
les, und zugleich sehr anomalisches Wachen. Daher
kann der Schlaf nicht schlechtweg als eine wachsende
und wieder abnehmende Negation der geistigen Thätig-
keit angesehen werden, sondern es müssen nähere Be-
stimmungen und schärfere Untersuchungen hinzukommen.

Noch etwas ist vorläufig vom wirklichen Einschlafen
zu unterscheiden, nämlich das Gefühl der Ermüdung,
welches eben so zwischen Wachen und Einschlafen, wie
der Traum zwischen Schlafen und Aufwachen, in die
Mitte zu treten pflegt. Die Ermüdung, eben in so fern
sie gefühlt wird, ist keine wirkliche Abnahme der geisti-

*) Rhapsodieen S. 87.

selbst da, wo ein solcher Einfluſs, wenn auch nur hypo-
thetisch, zu Hülfe gerufen wird, muſs es auf wissenschaft-
liche, nicht phantastische Weise geschehen; ein Haupt-
punct, den ich sogleich mit Wenigem näher bezeich-
nen werde.

Der erste von den Geisteszuständen, die unverkenn-
bar physiologische Gründe haben, ist der Schlaf, sammt
seinem Gefährten, dem Traume. Beyde verbunden ge-
ben den Typus auch zu den meisten krankhaften Erschei-
nungen des Nachtwandelns, des Wahnsinns, des thieri-
schen Magnetismus. Daher sagt Reil: „Wir würden
„dem Bewuſstseyn und dem Wahnsinn bald auf die Spur
„kommen, wenn wir erst wüſsten, was Schlaf, was Wa-
„chen sey.”*) Der erste Begriff aber, unter welchen
unvermeidlich der Schlaf gefaſst wird, ist Negation der
sämmtlichen Thätigkeit des Vorstellens mit allen seinen
Modificationen. Und hieraus würde eine sehr einfache
Wegweisung für die Untersuchung folgen, wenn der
merkwürdige Umstand nicht wäre, daſs das Eintreten des
Schlafs und sein Aufhören unter einander sehr ungleich
sind. Nämlich bald auf das vollkommene Wachen folgt
in der Regel der tiefe Schlaf; aber nicht eben so geht
wiederum dieser in jenes rückwärts über; sondern hier
schiebt der Traum sich ein, als ein allmähliges, partiel-
les, und zugleich sehr anomalisches Wachen. Daher
kann der Schlaf nicht schlechtweg als eine wachsende
und wieder abnehmende Negation der geistigen Thätig-
keit angesehen werden, sondern es müssen nähere Be-
stimmungen und schärfere Untersuchungen hinzukommen.

Noch etwas ist vorläufig vom wirklichen Einschlafen
zu unterscheiden, nämlich das Gefühl der Ermüdung,
welches eben so zwischen Wachen und Einschlafen, wie
der Traum zwischen Schlafen und Aufwachen, in die
Mitte zu treten pflegt. Die Ermüdung, eben in so fern
sie gefühlt wird, ist keine wirkliche Abnahme der geisti-

*) Rhapsodieen S. 87.
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[489/0524] selbst da, wo ein solcher Einfluſs, wenn auch nur hypo- thetisch, zu Hülfe gerufen wird, muſs es auf wissenschaft- liche, nicht phantastische Weise geschehen; ein Haupt- punct, den ich sogleich mit Wenigem näher bezeich- nen werde. Der erste von den Geisteszuständen, die unverkenn- bar physiologische Gründe haben, ist der Schlaf, sammt seinem Gefährten, dem Traume. Beyde verbunden ge- ben den Typus auch zu den meisten krankhaften Erschei- nungen des Nachtwandelns, des Wahnsinns, des thieri- schen Magnetismus. Daher sagt Reil: „Wir würden „dem Bewuſstseyn und dem Wahnsinn bald auf die Spur „kommen, wenn wir erst wüſsten, was Schlaf, was Wa- „chen sey.” *) Der erste Begriff aber, unter welchen unvermeidlich der Schlaf gefaſst wird, ist Negation der sämmtlichen Thätigkeit des Vorstellens mit allen seinen Modificationen. Und hieraus würde eine sehr einfache Wegweisung für die Untersuchung folgen, wenn der merkwürdige Umstand nicht wäre, daſs das Eintreten des Schlafs und sein Aufhören unter einander sehr ungleich sind. Nämlich bald auf das vollkommene Wachen folgt in der Regel der tiefe Schlaf; aber nicht eben so geht wiederum dieser in jenes rückwärts über; sondern hier schiebt der Traum sich ein, als ein allmähliges, partiel- les, und zugleich sehr anomalisches Wachen. Daher kann der Schlaf nicht schlechtweg als eine wachsende und wieder abnehmende Negation der geistigen Thätig- keit angesehen werden, sondern es müssen nähere Be- stimmungen und schärfere Untersuchungen hinzukommen. Noch etwas ist vorläufig vom wirklichen Einschlafen zu unterscheiden, nämlich das Gefühl der Ermüdung, welches eben so zwischen Wachen und Einschlafen, wie der Traum zwischen Schlafen und Aufwachen, in die Mitte zu treten pflegt. Die Ermüdung, eben in so fern sie gefühlt wird, ist keine wirkliche Abnahme der geisti- *) Rhapsodieen S. 87.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/524>, abgerufen am 24.04.2024.