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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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ges kommen lassen, oder gar die psychischen Erschei-
nungen in irgend welche Organe des Gehirns verlegen.
Nur zu oft hat man die äussern, entfernten Ursachen
der Thatsachen des Bewusstseyns verwechselt mit den
Seelenzuständen selbst, aus welchen unmittelbar er-
klärt werden musste, was in der innern Wahrnehmung
vorkommt.

Ehe wir jedoch unsern Gegenstand ganz verlassen,
ist noch nöthig, einer gewissen seltsamen Art von Träu-
men zu erwähnen, bey denen das Ich sich in verschie-
dene Personen zu spalten scheint; wie wenn Johnson
im Traume sich in einem Wettstreite des Witzes be-
fand, und dabey von seinen Gegnern übertroffen wurde;
oder wenn ein Herr von Goens sich in die Schule zu-
rückträumte, und dort von einem eifrigen Mitschüler die
Beantwortung vorgelegter Fragen hören musste, die er
selbst schuldig geblieben war *). -- Diese Art von Träu-
men ist sehr wichtig für die Theorie des Selbstbewusst-
seyns. Zwar für den consequenten Idealisten ist hier
nicht die geringste besondre Schwierigkeit. Ihm gilt der
ganze Unterschied zwischen Schlaf und Wachen nur für
Erscheinung. Daher lautet die Frage für ihn so: wie
kommt das wachende Ich dazu, sich vorzustel-
len, dass es also geträumt habe
? Und diese Frage
ist nicht viel schwerer noch leichter, als die ganz allge-
meine, wie kommt das Ich überhaupt zur Vor-
stellung seiner zeitlichen und individuellen
Existenz
? -- Allein wenn mit der realistischen Vor-
aussetzung, dass jene Träume als wirkliche Begebenhei-
ten anzusehen seyen, sich die Annahme einer ursprüng-
lichen Ichheit verbindet, vermöge deren alles, was im In-
nern vorgeht, unmittelbar ein Gegenstand der Selbstbe-
schauung seyn soll: dann ist das Räthsel in jenen Träu-
men unauflöslich, indem dieselben das Ich als ein sich
selbst gänzlich entfremdetes, als ein Object, von welchem
das Subject sich getrennt hat, darstellen. Wie kann man

*) Reil a. a. O. S. 94.

ges kommen lassen, oder gar die psychischen Erschei-
nungen in irgend welche Organe des Gehirns verlegen.
Nur zu oft hat man die äuſsern, entfernten Ursachen
der Thatsachen des Bewuſstseyns verwechselt mit den
Seelenzuständen selbst, aus welchen unmittelbar er-
klärt werden muſste, was in der innern Wahrnehmung
vorkommt.

Ehe wir jedoch unsern Gegenstand ganz verlassen,
ist noch nöthig, einer gewissen seltsamen Art von Träu-
men zu erwähnen, bey denen das Ich sich in verschie-
dene Personen zu spalten scheint; wie wenn Johnson
im Traume sich in einem Wettstreite des Witzes be-
fand, und dabey von seinen Gegnern übertroffen wurde;
oder wenn ein Herr von Goens sich in die Schule zu-
rückträumte, und dort von einem eifrigen Mitschüler die
Beantwortung vorgelegter Fragen hören muſste, die er
selbst schuldig geblieben war *). — Diese Art von Träu-
men ist sehr wichtig für die Theorie des Selbstbewuſst-
seyns. Zwar für den consequenten Idealisten ist hier
nicht die geringste besondre Schwierigkeit. Ihm gilt der
ganze Unterschied zwischen Schlaf und Wachen nur für
Erscheinung. Daher lautet die Frage für ihn so: wie
kommt das wachende Ich dazu, sich vorzustel-
len, daſs es also geträumt habe
? Und diese Frage
ist nicht viel schwerer noch leichter, als die ganz allge-
meine, wie kommt das Ich überhaupt zur Vor-
stellung seiner zeitlichen und individuellen
Existenz
? — Allein wenn mit der realistischen Vor-
aussetzung, daſs jene Träume als wirkliche Begebenhei-
ten anzusehen seyen, sich die Annahme einer ursprüng-
lichen Ichheit verbindet, vermöge deren alles, was im In-
nern vorgeht, unmittelbar ein Gegenstand der Selbstbe-
schauung seyn soll: dann ist das Räthsel in jenen Träu-
men unauflöslich, indem dieselben das Ich als ein sich
selbst gänzlich entfremdetes, als ein Object, von welchem
das Subject sich getrennt hat, darstellen. Wie kann man

*) Reil a. a. O. S. 94.
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[498/0533] ges kommen lassen, oder gar die psychischen Erschei- nungen in irgend welche Organe des Gehirns verlegen. Nur zu oft hat man die äuſsern, entfernten Ursachen der Thatsachen des Bewuſstseyns verwechselt mit den Seelenzuständen selbst, aus welchen unmittelbar er- klärt werden muſste, was in der innern Wahrnehmung vorkommt. Ehe wir jedoch unsern Gegenstand ganz verlassen, ist noch nöthig, einer gewissen seltsamen Art von Träu- men zu erwähnen, bey denen das Ich sich in verschie- dene Personen zu spalten scheint; wie wenn Johnson im Traume sich in einem Wettstreite des Witzes be- fand, und dabey von seinen Gegnern übertroffen wurde; oder wenn ein Herr von Goens sich in die Schule zu- rückträumte, und dort von einem eifrigen Mitschüler die Beantwortung vorgelegter Fragen hören muſste, die er selbst schuldig geblieben war *). — Diese Art von Träu- men ist sehr wichtig für die Theorie des Selbstbewuſst- seyns. Zwar für den consequenten Idealisten ist hier nicht die geringste besondre Schwierigkeit. Ihm gilt der ganze Unterschied zwischen Schlaf und Wachen nur für Erscheinung. Daher lautet die Frage für ihn so: wie kommt das wachende Ich dazu, sich vorzustel- len, daſs es also geträumt habe? Und diese Frage ist nicht viel schwerer noch leichter, als die ganz allge- meine, wie kommt das Ich überhaupt zur Vor- stellung seiner zeitlichen und individuellen Existenz? — Allein wenn mit der realistischen Vor- aussetzung, daſs jene Träume als wirkliche Begebenhei- ten anzusehen seyen, sich die Annahme einer ursprüng- lichen Ichheit verbindet, vermöge deren alles, was im In- nern vorgeht, unmittelbar ein Gegenstand der Selbstbe- schauung seyn soll: dann ist das Räthsel in jenen Träu- men unauflöslich, indem dieselben das Ich als ein sich selbst gänzlich entfremdetes, als ein Object, von welchem das Subject sich getrennt hat, darstellen. Wie kann man *) Reil a. a. O. S. 94.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/533>, abgerufen am 29.03.2024.