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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Diejenigen aber, welche dem Empirismus zugethan
sind, könnten, wenn sie wirklich für die Lehren der Er-
fahrung Empfänglichkeit besitzen, aus dem heutigen Zu-
stande der Physiologie lernen, wie viel, oder vielmehr
wie wenig, die blosse Erfahrung leiste. Als empirische
Gelehrsamkeit steht die Physiologie auf einer Höhe, die
Niemand verachten wird, sie wandelt überdies im Lichte
der heutigen Physik; gleichwohl hat sie begierig, wie der
Schwamm das Wasser, jene Naturphilosophie in sich
gesogen, die eben deswegen nichts weiss, weil sie damit
anfing, das Universum a priori zu construiren. Gegen
diesen Irrthum hat keine andre Wissenschaft sich so
schwach, so zu allem Widerstande unfähig gezeigt, als
eben die Physiologie. Das Gerede vom Leben ist das
todte Meer geworden, in welchem der philosophische
Untersuchungsgeist ertrunken liegt, so dass er jetzt, wo-
fern überhaupt eine Art von Auferstehung für ihn zu hof-
fen ist, sich in ganz unbefangenen Köpfen von neuem
erzeugen muss.


Diejenigen aber, welche dem Empirismus zugethan
sind, könnten, wenn sie wirklich für die Lehren der Er-
fahrung Empfänglichkeit besitzen, aus dem heutigen Zu-
stande der Physiologie lernen, wie viel, oder vielmehr
wie wenig, die bloſse Erfahrung leiste. Als empirische
Gelehrsamkeit steht die Physiologie auf einer Höhe, die
Niemand verachten wird, sie wandelt überdies im Lichte
der heutigen Physik; gleichwohl hat sie begierig, wie der
Schwamm das Wasser, jene Naturphilosophie in sich
gesogen, die eben deswegen nichts weiſs, weil sie damit
anfing, das Universum a priori zu construiren. Gegen
diesen Irrthum hat keine andre Wissenschaft sich so
schwach, so zu allem Widerstande unfähig gezeigt, als
eben die Physiologie. Das Gerede vom Leben ist das
todte Meer geworden, in welchem der philosophische
Untersuchungsgeist ertrunken liegt, so daſs er jetzt, wo-
fern überhaupt eine Art von Auferstehung für ihn zu hof-
fen ist, sich in ganz unbefangenen Köpfen von neuem
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[60/0095] Diejenigen aber, welche dem Empirismus zugethan sind, könnten, wenn sie wirklich für die Lehren der Er- fahrung Empfänglichkeit besitzen, aus dem heutigen Zu- stande der Physiologie lernen, wie viel, oder vielmehr wie wenig, die bloſse Erfahrung leiste. Als empirische Gelehrsamkeit steht die Physiologie auf einer Höhe, die Niemand verachten wird, sie wandelt überdies im Lichte der heutigen Physik; gleichwohl hat sie begierig, wie der Schwamm das Wasser, jene Naturphilosophie in sich gesogen, die eben deswegen nichts weiſs, weil sie damit anfing, das Universum a priori zu construiren. Gegen diesen Irrthum hat keine andre Wissenschaft sich so schwach, so zu allem Widerstande unfähig gezeigt, als eben die Physiologie. Das Gerede vom Leben ist das todte Meer geworden, in welchem der philosophische Untersuchungsgeist ertrunken liegt, so daſs er jetzt, wo- fern überhaupt eine Art von Auferstehung für ihn zu hof- fen ist, sich in ganz unbefangenen Köpfen von neuem erzeugen muſs.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/95>, abgerufen am 23.04.2024.