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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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die Statik und Mechanik des Geistes dieselben erleich-
tert hätten.

Nothwendig aber müssen wir einen Augenblick bey
der Vorfrage verweilen: ob wohl Jemand jetzt noch ge-
neigt sey, die Seelenvermögen wieder herbeyzubringen,
und sie mit den zuvor nachgewiesenen Kraft-Aeusserungen
der Vorstellungen selbst in Verbindung zu setzen. Die
Lehren vom Gedächtniss und von der Einbildungskraft,
von der Sinnlichkeit und der Vernunft, werden ohne
Zweifel noch lange ihre Liebhaber behalten; allein hier
kommt es nur darauf an, ob wohl mit und neben den
Gesetzen der Mechanik von der unmittelbaren und der
mittelbaren Wiedererweckung der Vorstellungen, an eine
Wirksamkeit solcher besondern Vermögen, wie Gedächt-
niss und Einbildungskraft, könne gedacht werden? Hier
möchte denn doch wohl Jedermann in Verlegenheit ge-
rathen, wenn er angeben sollte, wie die Seelenvermögen
eingreifen in die schon in vollem Gange begriffene Thä-
tigkeit der Vorstellungen selbst! Nach welchen Ge-
setzen
sollte es doch geschehen, dass die, schon gesetz-
mässig wirkenden, Vorstellungen gestört würden von je-
nen, ihnen fremden, Gewalten? -- Vermuthlich nach
gar keinen Gesetzen;
denn bekanntlich ist an genaue
Bestimmung der Bedingungen, wann, wie, und wie stark
sich irgend eins der Seelenvermögen rege oder nicht,
noch niemals in den Psychologien zu denken gewesen;
die Vermögen sind sammt und sonders lauter transscen-
dentale Freyheiten.

Wenn man nun fürs erste auch nur soviel einsieht,
dass wenigstens einige Functionen des Gedächtnisses und
der Einbildungskraft ohne die dazu bestimmten Vermö-
gen von Statten gehn; -- und dass sich der hierüber
aufgestellten Theorie die genannten Vermögen nicht
schicklich mehr anfügen lassen: so wird man ein gerech-
tes Misstrauen auch gegen die andern Seelenvermögen,
deren vermeinte Functionen noch nicht erklärt sind, zu
fassen nicht umhin können.

In

die Statik und Mechanik des Geistes dieselben erleich-
tert hätten.

Nothwendig aber müssen wir einen Augenblick bey
der Vorfrage verweilen: ob wohl Jemand jetzt noch ge-
neigt sey, die Seelenvermögen wieder herbeyzubringen,
und sie mit den zuvor nachgewiesenen Kraft-Aeuſserungen
der Vorstellungen selbst in Verbindung zu setzen. Die
Lehren vom Gedächtniſs und von der Einbildungskraft,
von der Sinnlichkeit und der Vernunft, werden ohne
Zweifel noch lange ihre Liebhaber behalten; allein hier
kommt es nur darauf an, ob wohl mit und neben den
Gesetzen der Mechanik von der unmittelbaren und der
mittelbaren Wiedererweckung der Vorstellungen, an eine
Wirksamkeit solcher besondern Vermögen, wie Gedächt-
niſs und Einbildungskraft, könne gedacht werden? Hier
möchte denn doch wohl Jedermann in Verlegenheit ge-
rathen, wenn er angeben sollte, wie die Seelenvermögen
eingreifen in die schon in vollem Gange begriffene Thä-
tigkeit der Vorstellungen selbst! Nach welchen Ge-
setzen
sollte es doch geschehen, daſs die, schon gesetz-
mäſsig wirkenden, Vorstellungen gestört würden von je-
nen, ihnen fremden, Gewalten? — Vermuthlich nach
gar keinen Gesetzen;
denn bekanntlich ist an genaue
Bestimmung der Bedingungen, wann, wie, und wie stark
sich irgend eins der Seelenvermögen rege oder nicht,
noch niemals in den Psychologien zu denken gewesen;
die Vermögen sind sammt und sonders lauter transscen-
dentale Freyheiten.

Wenn man nun fürs erste auch nur soviel einsieht,
daſs wenigstens einige Functionen des Gedächtnisses und
der Einbildungskraft ohne die dazu bestimmten Vermö-
gen von Statten gehn; — und daſs sich der hierüber
aufgestellten Theorie die genannten Vermögen nicht
schicklich mehr anfügen lassen: so wird man ein gerech-
tes Miſstrauen auch gegen die andern Seelenvermögen,
deren vermeinte Functionen noch nicht erklärt sind, zu
fassen nicht umhin können.

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[64/0099] die Statik und Mechanik des Geistes dieselben erleich- tert hätten. Nothwendig aber müssen wir einen Augenblick bey der Vorfrage verweilen: ob wohl Jemand jetzt noch ge- neigt sey, die Seelenvermögen wieder herbeyzubringen, und sie mit den zuvor nachgewiesenen Kraft-Aeuſserungen der Vorstellungen selbst in Verbindung zu setzen. Die Lehren vom Gedächtniſs und von der Einbildungskraft, von der Sinnlichkeit und der Vernunft, werden ohne Zweifel noch lange ihre Liebhaber behalten; allein hier kommt es nur darauf an, ob wohl mit und neben den Gesetzen der Mechanik von der unmittelbaren und der mittelbaren Wiedererweckung der Vorstellungen, an eine Wirksamkeit solcher besondern Vermögen, wie Gedächt- niſs und Einbildungskraft, könne gedacht werden? Hier möchte denn doch wohl Jedermann in Verlegenheit ge- rathen, wenn er angeben sollte, wie die Seelenvermögen eingreifen in die schon in vollem Gange begriffene Thä- tigkeit der Vorstellungen selbst! Nach welchen Ge- setzen sollte es doch geschehen, daſs die, schon gesetz- mäſsig wirkenden, Vorstellungen gestört würden von je- nen, ihnen fremden, Gewalten? — Vermuthlich nach gar keinen Gesetzen; denn bekanntlich ist an genaue Bestimmung der Bedingungen, wann, wie, und wie stark sich irgend eins der Seelenvermögen rege oder nicht, noch niemals in den Psychologien zu denken gewesen; die Vermögen sind sammt und sonders lauter transscen- dentale Freyheiten. Wenn man nun fürs erste auch nur soviel einsieht, daſs wenigstens einige Functionen des Gedächtnisses und der Einbildungskraft ohne die dazu bestimmten Vermö- gen von Statten gehn; — und daſs sich der hierüber aufgestellten Theorie die genannten Vermögen nicht schicklich mehr anfügen lassen: so wird man ein gerech- tes Miſstrauen auch gegen die andern Seelenvermögen, deren vermeinte Functionen noch nicht erklärt sind, zu fassen nicht umhin können. In

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/99>, abgerufen am 19.04.2024.