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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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kend ist alles, was unserer innern Wahrnehmung sich dar-
stellt. Diese Bemerkung, welche die Unmöglichkeit einer vest-
bestimmten psychologischen Erfahrung an den Tag legt, hat
den Anfang des gegenwärtigen Vortrags gemacht; jetzt muß
sie weiter ausgeführt werden. An sie knüpft sich die Be-
trachtung der verschiedenen Lebens-Zustände, wie sie Jeder-
mann zu durchlaufen pflegt; ferner die Angabe der auffal-
lendsten Verschiedenheit menschlicher Anlagen und mensch-
licher Entwickelung unter dem Einflusse äußrer Umstände;
endlich die kurze Bezeichnung der anomalischen Geistes-Zu-
stände.

127. Die Reproduction durch Gedächtniß und Einbil-
dungskraft (47. u. s. f.) verräth zwar, daß keine einmal
erzeugte Vorstellung ganz verloren geht, und nicht leicht
ein einmal entstandenes Zusammentreffen von Vorstellun-
gen ganz ohne Folgen bleibt. Allein wenn wir mit der
Menge alles dessen, was der Geist eines erwachsenen Men-
schen eingesammelt hat, dasjenige vergleichen, dessen er sich
in jedem einzelnen beliebigen Augenblicke bewußt ist, -- so
müssen wir über das Misverhältniß erstaunen zwischen jenem
Reichthum und dieser Armuth! Man möchte gleichnißweise
dem menschlichen Geiste ein Auge zuschreiben, das eine äu-
ßerst enge Pupille, dabey aber die höchste Beweglichkeit be-
säße. Die Erklärung hievon liegt unmittelbar in dem, was
oben (16, 19) über die Schwellen des Bewußtseyns ist
gelehrt worden. Uebrigens ist die äußerst kleine Zahl von
Vorstellungen, die wir auf einmal zu umfassen vermögen,
oft im schnellsten Kommen und Gehen begriffen, und da-
durch wird es dem geistvollen Menschen möglich, seine Vor-
stellungen in die mannigfaltigste Berührung zu bringen und
sie durch einander zu bestimmen.

128. Gewisse Aufregungen des Wechsels der Vorstel-
lungen durch äußere Eindrücke sind dem Menschen Bedürf-

kend ist alles, was unserer innern Wahrnehmung sich dar-
stellt. Diese Bemerkung, welche die Unmöglichkeit einer vest-
bestimmten psychologischen Erfahrung an den Tag legt, hat
den Anfang des gegenwärtigen Vortrags gemacht; jetzt muß
sie weiter ausgeführt werden. An sie knüpft sich die Be-
trachtung der verschiedenen Lebens-Zustände, wie sie Jeder-
mann zu durchlaufen pflegt; ferner die Angabe der auffal-
lendsten Verschiedenheit menschlicher Anlagen und mensch-
licher Entwickelung unter dem Einflusse äußrer Umstände;
endlich die kurze Bezeichnung der anomalischen Geistes-Zu-
stände.

127. Die Reproduction durch Gedächtniß und Einbil-
dungskraft (47. u. s. f.) verräth zwar, daß keine einmal
erzeugte Vorstellung ganz verloren geht, und nicht leicht
ein einmal entstandenes Zusammentreffen von Vorstellun-
gen ganz ohne Folgen bleibt. Allein wenn wir mit der
Menge alles dessen, was der Geist eines erwachsenen Men-
schen eingesammelt hat, dasjenige vergleichen, dessen er sich
in jedem einzelnen beliebigen Augenblicke bewußt ist, — so
müssen wir über das Misverhältniß erstaunen zwischen jenem
Reichthum und dieser Armuth! Man möchte gleichnißweise
dem menschlichen Geiste ein Auge zuschreiben, das eine äu-
ßerst enge Pupille, dabey aber die höchste Beweglichkeit be-
säße. Die Erklärung hievon liegt unmittelbar in dem, was
oben (16, 19) über die Schwellen des Bewußtseyns ist
gelehrt worden. Uebrigens ist die äußerst kleine Zahl von
Vorstellungen, die wir auf einmal zu umfassen vermögen,
oft im schnellsten Kommen und Gehen begriffen, und da-
durch wird es dem geistvollen Menschen möglich, seine Vor-
stellungen in die mannigfaltigste Berührung zu bringen und
sie durch einander zu bestimmen.

128. Gewisse Aufregungen des Wechsels der Vorstel-
lungen durch äußere Eindrücke sind dem Menschen Bedürf-

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[100/0108] kend ist alles, was unserer innern Wahrnehmung sich dar- stellt. Diese Bemerkung, welche die Unmöglichkeit einer vest- bestimmten psychologischen Erfahrung an den Tag legt, hat den Anfang des gegenwärtigen Vortrags gemacht; jetzt muß sie weiter ausgeführt werden. An sie knüpft sich die Be- trachtung der verschiedenen Lebens-Zustände, wie sie Jeder- mann zu durchlaufen pflegt; ferner die Angabe der auffal- lendsten Verschiedenheit menschlicher Anlagen und mensch- licher Entwickelung unter dem Einflusse äußrer Umstände; endlich die kurze Bezeichnung der anomalischen Geistes-Zu- stände. 127. Die Reproduction durch Gedächtniß und Einbil- dungskraft (47. u. s. f.) verräth zwar, daß keine einmal erzeugte Vorstellung ganz verloren geht, und nicht leicht ein einmal entstandenes Zusammentreffen von Vorstellun- gen ganz ohne Folgen bleibt. Allein wenn wir mit der Menge alles dessen, was der Geist eines erwachsenen Men- schen eingesammelt hat, dasjenige vergleichen, dessen er sich in jedem einzelnen beliebigen Augenblicke bewußt ist, — so müssen wir über das Misverhältniß erstaunen zwischen jenem Reichthum und dieser Armuth! Man möchte gleichnißweise dem menschlichen Geiste ein Auge zuschreiben, das eine äu- ßerst enge Pupille, dabey aber die höchste Beweglichkeit be- säße. Die Erklärung hievon liegt unmittelbar in dem, was oben (16, 19) über die Schwellen des Bewußtseyns ist gelehrt worden. Uebrigens ist die äußerst kleine Zahl von Vorstellungen, die wir auf einmal zu umfassen vermögen, oft im schnellsten Kommen und Gehen begriffen, und da- durch wird es dem geistvollen Menschen möglich, seine Vor- stellungen in die mannigfaltigste Berührung zu bringen und sie durch einander zu bestimmen. 128. Gewisse Aufregungen des Wechsels der Vorstel- lungen durch äußere Eindrücke sind dem Menschen Bedürf-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/108>, abgerufen am 29.03.2024.