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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen, und eben deshalb
ist das Streben dahin unbegränzt.

239. Wie nun die Kraft der Selbstbeherrschung nie-
mals das Werk eines Augenblicks, vielmehr ein Resultat
des ganzen verflossenen Lebens ist, so kann auch nicht jede
Zeit des Lebens in Ansehung derselben gleich entscheidend
seyn. Ein bedeutender Vorrath von Gedanken und Gefüh-
len, der keine verhältnißmäßig großen Zusätze mehr zu er-
warten hat (man erinnere sich der abnehmenden Empfäng-
lichkeit), muß erst vorhanden seyn, ehe eine so durchgrei-
fende Sammlung des Gemüths Statt haben kann, daß der
Mensch mit Erfolg über sich selbst im Allgemeinen zu be-
schließen vermöchte. Dann aber, wenn diese Bedingung
erfüllt ist (in der Regel am Ende der Erziehungsjahre),
ist es Zeit zu der tiefsten Besinnung, zu der umfassendsten
praktischen Ueberlegung. Denn von der Jnnigkeit der Ver-
bindung, welche die Vorstellungen nun eingehen, von der
genauen Kunde über seine innersten Wünsche, welche der
Mensch nun erlangt, von der rechten Stellung in der Außen-
welt, die er jetzo sich selbst bereitet, hängt sowohl die
Stärke als die Richtigkeit der Führung ab, die er fortan
sich geben wird, und eben davon hängt auch die rechte
Aufnahme alles Neuen ab, welches der Lauf des Lebens
noch ferner herbeyführen wird.



Sechstes Capitel.
Psychologische Betrachtungen über die Bestim-
mung des Menschen.

240. Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange
sie den Menschen als allein stehend betrachtet. Denn theils

läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen, und eben deshalb
ist das Streben dahin unbegränzt.

239. Wie nun die Kraft der Selbstbeherrschung nie-
mals das Werk eines Augenblicks, vielmehr ein Resultat
des ganzen verflossenen Lebens ist, so kann auch nicht jede
Zeit des Lebens in Ansehung derselben gleich entscheidend
seyn. Ein bedeutender Vorrath von Gedanken und Gefüh-
len, der keine verhältnißmäßig großen Zusätze mehr zu er-
warten hat (man erinnere sich der abnehmenden Empfäng-
lichkeit), muß erst vorhanden seyn, ehe eine so durchgrei-
fende Sammlung des Gemüths Statt haben kann, daß der
Mensch mit Erfolg über sich selbst im Allgemeinen zu be-
schließen vermöchte. Dann aber, wenn diese Bedingung
erfüllt ist (in der Regel am Ende der Erziehungsjahre),
ist es Zeit zu der tiefsten Besinnung, zu der umfassendsten
praktischen Ueberlegung. Denn von der Jnnigkeit der Ver-
bindung, welche die Vorstellungen nun eingehen, von der
genauen Kunde über seine innersten Wünsche, welche der
Mensch nun erlangt, von der rechten Stellung in der Außen-
welt, die er jetzo sich selbst bereitet, hängt sowohl die
Stärke als die Richtigkeit der Führung ab, die er fortan
sich geben wird, und eben davon hängt auch die rechte
Aufnahme alles Neuen ab, welches der Lauf des Lebens
noch ferner herbeyführen wird.



Sechstes Capitel.
Psychologische Betrachtungen über die Bestim-
mung des Menschen.

240. Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange
sie den Menschen als allein stehend betrachtet. Denn theils

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[193/0201] läßt sich im Allgemeinen nicht bestimmen, und eben deshalb ist das Streben dahin unbegränzt. 239. Wie nun die Kraft der Selbstbeherrschung nie- mals das Werk eines Augenblicks, vielmehr ein Resultat des ganzen verflossenen Lebens ist, so kann auch nicht jede Zeit des Lebens in Ansehung derselben gleich entscheidend seyn. Ein bedeutender Vorrath von Gedanken und Gefüh- len, der keine verhältnißmäßig großen Zusätze mehr zu er- warten hat (man erinnere sich der abnehmenden Empfäng- lichkeit), muß erst vorhanden seyn, ehe eine so durchgrei- fende Sammlung des Gemüths Statt haben kann, daß der Mensch mit Erfolg über sich selbst im Allgemeinen zu be- schließen vermöchte. Dann aber, wenn diese Bedingung erfüllt ist (in der Regel am Ende der Erziehungsjahre), ist es Zeit zu der tiefsten Besinnung, zu der umfassendsten praktischen Ueberlegung. Denn von der Jnnigkeit der Ver- bindung, welche die Vorstellungen nun eingehen, von der genauen Kunde über seine innersten Wünsche, welche der Mensch nun erlangt, von der rechten Stellung in der Außen- welt, die er jetzo sich selbst bereitet, hängt sowohl die Stärke als die Richtigkeit der Führung ab, die er fortan sich geben wird, und eben davon hängt auch die rechte Aufnahme alles Neuen ab, welches der Lauf des Lebens noch ferner herbeyführen wird. Sechstes Capitel. Psychologische Betrachtungen über die Bestim- mung des Menschen. 240. Die Psychologie bleibt immer einseitig, so lange sie den Menschen als allein stehend betrachtet. Denn theils

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/201>, abgerufen am 28.03.2024.