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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und
Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und
zwar größerntheils wandelbare Zustände der letzteren.
Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfah-
rung im Großen bestätigt es. Der Mann empfindet we-
nig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen
was der Knabe recht lernte, das weiß noch der Greis. Jn
wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor
allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden
nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Haupt-
satzes zugleich mit aufklären.

34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vor-
stellungen nicht bloß nach der Hemmung (.22), sondern
eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern
die Hemmungsgrade (15) dazu klein genug sind. Hierin
liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die ange-
nehmen Gefühle im engsten Sinne
nebst ihren Ge-
gentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden.
(Nämlich als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler
Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja
die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht geson-
dert können wahrgenommen werden.)

Anmerkung. Bey der Ausführung dieser Untersu-
chung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe
von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik be-
ruht. Bey einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad
(das Jntervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über
den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also
gewiß, daß man bloß in der Verschiedenheit der Hemmungs-
grade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und daß man
sie darin muß finden können. Die dazu nöthigen Rechnun-
gen sind größtentheils geliefert im zweyten Hefte des Kö-

aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und
Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und
zwar größerntheils wandelbare Zustände der letzteren.
Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfah-
rung im Großen bestätigt es. Der Mann empfindet we-
nig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen
was der Knabe recht lernte, das weiß noch der Greis. Jn
wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor
allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden
nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Haupt-
satzes zugleich mit aufklären.

34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vor-
stellungen nicht bloß nach der Hemmung (.22), sondern
eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern
die Hemmungsgrade (15) dazu klein genug sind. Hierin
liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die ange-
nehmen Gefühle im engsten Sinne
nebst ihren Ge-
gentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden.
(Nämlich als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler
Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja
die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht geson-
dert können wahrgenommen werden.)

Anmerkung. Bey der Ausführung dieser Untersu-
chung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe
von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik be-
ruht. Bey einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad
(das Jntervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über
den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also
gewiß, daß man bloß in der Verschiedenheit der Hemmungs-
grade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und daß man
sie darin muß finden können. Die dazu nöthigen Rechnun-
gen sind größtentheils geliefert im zweyten Hefte des Kö-

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[27/0035] aber hat seinen Sitz im Geiste, oder, Fühlen und Begehren sind zunächst Zustände der Vorstellungen, und zwar größerntheils wandelbare Zustände der letzteren. Dies zeigen schon die Affecten. Aber auch die Erfah- rung im Großen bestätigt es. Der Mann empfindet we- nig von den Freuden und Leiden seiner Jugend; hingegen was der Knabe recht lernte, das weiß noch der Greis. Jn wiefern es dennoch eine bleibende Gemüthsart, und vor allen Dingen einen Charakter geben könne, das werden nach und nach die Erläuterungen des aufgestellten Haupt- satzes zugleich mit aufklären. 34. Zuvörderst giebt es eine Verschmelzung der Vor- stellungen nicht bloß nach der Hemmung (.22), sondern eine davon ganz verschiedene vor der Hemmung, wofern die Hemmungsgrade (15) dazu klein genug sind. Hierin liegt ein Princip ästhetischer Urtheile. Die ange- nehmen Gefühle im engsten Sinne nebst ihren Ge- gentheilen, müssen denselben analog betrachtet werden. (Nämlich als entspringend aus Verhältnissen sehr vieler Vorstellungen, die sich aber nicht einzeln angeben lassen, ja die vielleicht aus physiologischen Gründen gar nicht geson- dert können wahrgenommen werden.) Anmerkung. Bey der Ausführung dieser Untersu- chung bietet sich als ein Erfahrungsgegenstand die Reihe von Tonverhältnissen dar, auf denen die Musik be- ruht. Bey einfachen Tönen entscheidet der Hemmungsgrad (das Jntervall der Töne) ganz allein und unmittelbar über den ästhetischen Charakter ihres Verhältnisses. Es ist also gewiß, daß man bloß in der Verschiedenheit der Hemmungs- grade die psychologische Erklärung (weit verschieden von der akustischen) aller Harmonie zu suchen hat, und daß man sie darin muß finden können. Die dazu nöthigen Rechnun- gen sind größtentheils geliefert im zweyten Hefte des Kö-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/35>, abgerufen am 19.04.2024.