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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson-
derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn
zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen.
Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer-
nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas-
sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be-
decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer
unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die
Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei-
nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt
und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung)

Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von
Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. -- Alles
bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht
auf Anschauungen
, welche letztere die Vorstellung eines
Objects, gegenüber andern Objecten und dem
Subjecte, voraussetzen
, und deshalb nicht viel weni-
ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß
die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man
es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe
daran, nur noch zu empfinden.

B. Jnnerer Sinn.

74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf
einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern
Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas-
sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech-
sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für
ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält
(denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund-
lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung
der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er-
findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun-

der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson-
derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn
zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen.
Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer-
nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas-
sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be-
decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer
unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die
Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei-
nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt
und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung)

Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von
Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles
bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht
auf Anschauungen
, welche letztere die Vorstellung eines
Objects, gegenüber andern Objecten und dem
Subjecte, voraussetzen
, und deshalb nicht viel weni-
ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß
die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man
es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe
daran, nur noch zu empfinden.

B. Jnnerer Sinn.

74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf
einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern
Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas-
sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech-
sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für
ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält
(denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund-
lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung
der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er-
findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun-

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[57/0065] der Netzhaut des Auges sieht einzeln und liefert eine geson- derte Empfindung. Manchem Auge fehlt der Farbensinn zum Theil, einigen ganz, bey übrigens scharfem Sehen. Die höchste Beweglichkeit, die Fähigkeit sich nahen und fer- nen Gegenständen, starkem und schwachem Lichte anzupas- sen, endlich sich mit den Augenliedern willkührlich zu be- decken, sind Vorzüge des Organs. (Es wird sich tiefer unten zeigen, daß eben die Beweglichkeit ganz besonders die Auffassung der räumlichen Formen vermittelt. Diese ist kei- nesweges so ursprünglich, wie sie scheint; sie wird gelernt und durchläuft sehr verschiedene Stufen der Ausbildung) Anmerkung. Jeder Sinn hat seinen Grad von Schärfe und Feinheit, seine Weite und Weile. — Alles bisherige bezieht sich nur auf Empfindungen, nicht auf Anschauungen, welche letztere die Vorstellung eines Objects, gegenüber andern Objecten und dem Subjecte, voraussetzen, und deshalb nicht viel weni- ger als alle sogenannten Seelenvermögen (keinesweges bloß die Sinnlichkeit) zugleich beschäftigen. Wer sich, wie man es nennt, im Anschauen vergißt und vertieft, der ist nahe daran, nur noch zu empfinden. B. Jnnerer Sinn. 74. Kein bemerkbares Organ des Leibes deutet auf einen innern Sinn; allein nach der Analogie mit den äußern Sinnen hat man jenen angenommen, um ihm die Auffas- sungen unserer eignen Zustände, in ihrem zeitlichen Wech- sel, beyzulegen. Der innere Sinn, so fern man ihn für ein besonderes Bestandstück unserer geistigen Fähigkeit hält (denn übrigens liegt seine Erklärung schon in der Grund- lehre, 40-43), ist demnach ganz und gar eine Erfindung der Psychologen, und zwar eine ziemlich mangelhafte Er- findung, denn sie wissen weder die Klassen von Vorstellun-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/65>, abgerufen am 28.03.2024.