Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an
brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde
möge gelegen haben, dann (vorwärts) von Menschen die
sich dort lagerten, ergriffen und (weiter vorwärts) angezün-
det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese
Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts).
Welcher Brand konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er-
hob? (Seitwärts ins Gebiet der Möglichkeit, zugleich rück-
schauend auf den Sturm und vorschauend auf den Schaden.)
Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen
sie dahin? Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben?
Wem gehört der Schatz? -- Jedes Saamenkorn erinnert
rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor-
wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber
an den Gebrauch, den man vielleicht, ohne es zu pflanzen,
davon machen wird. -- Zu den nützlichen Uebungen gehört
es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden Richtungen
und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri-
gens ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn-
lichkeiten vielfältig eins an die Stelle des andern gesetzt
wird, woraus neue Zusammensetzungen, Erdichtungen,
entstehen, für die man ein Dichtungsvermögen erfun-
den hat.

Anmerkung. Das Dichten, im weitesten Sinne,
ist das Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken
in den Wissenschaften gehört eben so viel Phantasie, als
zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr zweifelhaft, ob
Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe.

93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin
überein, daß bey jedem Menschen ihre vorzügliche Stärke
auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu beschränken
pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde
ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht-

in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an
brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde
möge gelegen haben, dann (vorwärts) von Menschen die
sich dort lagerten, ergriffen und (weiter vorwärts) angezün-
det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese
Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts).
Welcher Brand konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er-
hob? (Seitwärts ins Gebiet der Möglichkeit, zugleich rück-
schauend auf den Sturm und vorschauend auf den Schaden.)
Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen
sie dahin? Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben?
Wem gehört der Schatz? — Jedes Saamenkorn erinnert
rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor-
wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber
an den Gebrauch, den man vielleicht, ohne es zu pflanzen,
davon machen wird. — Zu den nützlichen Uebungen gehört
es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden Richtungen
und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri-
gens ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn-
lichkeiten vielfältig eins an die Stelle des andern gesetzt
wird, woraus neue Zusammensetzungen, Erdichtungen,
entstehen, für die man ein Dichtungsvermögen erfun-
den hat.

Anmerkung. Das Dichten, im weitesten Sinne,
ist das Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken
in den Wissenschaften gehört eben so viel Phantasie, als
zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr zweifelhaft, ob
Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe.

93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin
überein, daß bey jedem Menschen ihre vorzügliche Stärke
auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu beschränken
pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde
ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0082" n="74"/>
in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an<lb/>
brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde<lb/>
möge gelegen
                 haben, dann (vorwärts) von Menschen die<lb/>
sich dort lagerten, ergriffen und
                 (weiter vorwärts) angezün-<lb/>
det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese<lb/>
Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts).<lb/>
Welcher Brand
                 konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er-<lb/>
hob? (Seitwärts ins Gebiet der
                 Möglichkeit, zugleich rück-<lb/>
schauend auf den Sturm und vorschauend auf den
                 Schaden.)<lb/>
Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen<lb/>
sie dahin?
                 Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben?<lb/>
Wem gehört der Schatz? &#x2014; Jedes
                 Saamenkorn erinnert<lb/>
rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor-<lb/>
wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber<lb/>
an den Gebrauch,
                 den man vielleicht, ohne es zu pflanzen,<lb/>
davon machen wird. &#x2014; Zu den
                 nützlichen Uebungen gehört<lb/>
es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden
                 Richtungen<lb/>
und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri-<lb/>
gens
                 ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn-<lb/>
lichkeiten vielfältig eins
                 an die Stelle des andern gesetzt<lb/>
wird, woraus neue Zusammensetzungen, <hi rendition="#g">Erdichtungen</hi>,<lb/>
entstehen, für die man ein <hi rendition="#g">Dichtungsvermögen</hi> erfun-<lb/>
den hat.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Das Dichten, im weitesten Sinne,<lb/>
ist das
                 Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken<lb/>
in den Wissenschaften gehört
                 eben so viel Phantasie, als<lb/>
zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr
                 zweifelhaft, ob<lb/>
Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe.</p><lb/>
              <p>93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin<lb/>
überein, daß bey jedem
                 Menschen ihre vorzügliche Stärke<lb/>
auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu
                 beschränken<lb/>
pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde<lb/>
ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[74/0082] in einem Walde findet, der denkt zunächst unmittelbar an brennendes Holz, welches (weiter rückwärts) dürr im Walde möge gelegen haben, dann (vorwärts) von Menschen die sich dort lagerten, ergriffen und (weiter vorwärts) angezün- det seyn. Wie aber kamen die Menschen dahin? (Diese Frage geht rückwärts.) Wo sind sie geblieben? (vorwärts). Welcher Brand konnte entstehn, wenn sich ein Sturm er- hob? (Seitwärts ins Gebiet der Möglichkeit, zugleich rück- schauend auf den Sturm und vorschauend auf den Schaden.) Oder man findet alte Münzen in der Erde. Wie kommen sie dahin? Aus welcher Zeit sind sie? Weshalb vergraben? Wem gehört der Schatz? — Jedes Saamenkorn erinnert rückwärts an das Gewächs, von dem es stammt, und vor- wärts an das, welches daraus entstehen kann, zugleich aber an den Gebrauch, den man vielleicht, ohne es zu pflanzen, davon machen wird. — Zu den nützlichen Uebungen gehört es, in vielen solchen Beyspielen die wechselnden Richtungen und Verzweigungen des Gedankenlaufes zu beachten. Uebri- gens ist sehr bekannt, daß bey der Verknüpfung nach Aehn- lichkeiten vielfältig eins an die Stelle des andern gesetzt wird, woraus neue Zusammensetzungen, Erdichtungen, entstehen, für die man ein Dichtungsvermögen erfun- den hat. Anmerkung. Das Dichten, im weitesten Sinne, ist das Wesentliche bey allem Erfinden. Zum Selbstdenken in den Wissenschaften gehört eben so viel Phantasie, als zu poetischen Erzeugnissen; und es ist sehr zweifelhaft, ob Newton oder Shakespeare mehr Phantasie besessen habe. 93. Gedächtniß und Einbildungskraft kommen darin überein, daß bey jedem Menschen ihre vorzügliche Stärke auf gewisse Klassen von Gegenständen sich zu beschränken pflegt. Wer sich geometrische Phantasie wünscht, der würde ganz vergeblich sich in der, gewöhnlich sogenannten, Dicht-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/82
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/82>, abgerufen am 29.03.2024.