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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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96. Jn dem weiten und dunkeln Raume neben dem
Vorstellen hat man nun neuerlich die Gränze gezogen zwi-
schen Fühlen und Begehren. Allein fragt man die Psy-
chologen nach dem Ursprunge dieser Gränze, so geben sie
zwar an, das Begehren beziehe sich auf Gegenstände, das
Gefühl auf Zustände; dennoch drehen sich ihre Erklärungen
im Cirkel, oder kommen wenigstens nicht über die Frage
hinweg, ob vielleicht Fühlen und Begehren einerley Ereig-
niß sey, das wir nur in unserer Vorstellung von verschie-
denen Seiten betrachten, und deshalb mit zweyerley Namen
benennen?

Anmerkung. Maaß in dem Werke über die Ge-
fühle (S. 39 des ersten Theils) erklärt Fühlen durch Be-
gehren ("ein Gefühl ist angenehm, so sern es um sei-
ner selbst willen begehrt wird"), aber eben derselbe, in
dem Werke über die Leidenschaften (S. 2 vergl. S. 7)
sagt: es sey ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was
als gut, zu verabscheuen was als böse vorgestellt werde.
Wobey die Frage entsteht, was denn gut, und was
denn böse
sey? Darauf nun erhalten wir die Antwort:
die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie ange-
nehm afftcirt werde, u. s. w. Und hiemit sind wir im
Cirkel herumgeführt. -- Hoffbauer, in seinem Grundrisse
der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühl-
vermögen und Begehrungsvermögen so an: "Wir sind uns
mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben her-
vorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vor-
stellungen erzeugen in uns das Bestreben, ihren Gegen-
stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren,
u. s. w.
Hier ist einerley Grund, das Bestreben, den Ge-
fühlen und Begierden untergelegt; und wenn der Unterschied
in den Gegenständen und Zuständen liegen soll, so
fragt sich, ob nicht das eigentlich Begehrte vielleicht die

96. Jn dem weiten und dunkeln Raume neben dem
Vorstellen hat man nun neuerlich die Gränze gezogen zwi-
schen Fühlen und Begehren. Allein fragt man die Psy-
chologen nach dem Ursprunge dieser Gränze, so geben sie
zwar an, das Begehren beziehe sich auf Gegenstände, das
Gefühl auf Zustände; dennoch drehen sich ihre Erklärungen
im Cirkel, oder kommen wenigstens nicht über die Frage
hinweg, ob vielleicht Fühlen und Begehren einerley Ereig-
niß sey, das wir nur in unserer Vorstellung von verschie-
denen Seiten betrachten, und deshalb mit zweyerley Namen
benennen?

Anmerkung. Maaß in dem Werke über die Ge-
fühle (S. 39 des ersten Theils) erklärt Fühlen durch Be-
gehren („ein Gefühl ist angenehm, so sern es um sei-
ner selbst willen begehrt wird“), aber eben derselbe, in
dem Werke über die Leidenschaften (S. 2 vergl. S. 7)
sagt: es sey ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was
als gut, zu verabscheuen was als böse vorgestellt werde.
Wobey die Frage entsteht, was denn gut, und was
denn böse
sey? Darauf nun erhalten wir die Antwort:
die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie ange-
nehm afftcirt werde, u. s. w. Und hiemit sind wir im
Cirkel herumgeführt. — Hoffbauer, in seinem Grundrisse
der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühl-
vermögen und Begehrungsvermögen so an: „Wir sind uns
mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben her-
vorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vor-
stellungen erzeugen in uns das Bestreben, ihren Gegen-
stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren,
u. s. w.
Hier ist einerley Grund, das Bestreben, den Ge-
fühlen und Begierden untergelegt; und wenn der Unterschied
in den Gegenständen und Zuständen liegen soll, so
fragt sich, ob nicht das eigentlich Begehrte vielleicht die

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[76/0084] 96. Jn dem weiten und dunkeln Raume neben dem Vorstellen hat man nun neuerlich die Gränze gezogen zwi- schen Fühlen und Begehren. Allein fragt man die Psy- chologen nach dem Ursprunge dieser Gränze, so geben sie zwar an, das Begehren beziehe sich auf Gegenstände, das Gefühl auf Zustände; dennoch drehen sich ihre Erklärungen im Cirkel, oder kommen wenigstens nicht über die Frage hinweg, ob vielleicht Fühlen und Begehren einerley Ereig- niß sey, das wir nur in unserer Vorstellung von verschie- denen Seiten betrachten, und deshalb mit zweyerley Namen benennen? Anmerkung. Maaß in dem Werke über die Ge- fühle (S. 39 des ersten Theils) erklärt Fühlen durch Be- gehren („ein Gefühl ist angenehm, so sern es um sei- ner selbst willen begehrt wird“), aber eben derselbe, in dem Werke über die Leidenschaften (S. 2 vergl. S. 7) sagt: es sey ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was als gut, zu verabscheuen was als böse vorgestellt werde. Wobey die Frage entsteht, was denn gut, und was denn böse sey? Darauf nun erhalten wir die Antwort: die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie ange- nehm afftcirt werde, u. s. w. Und hiemit sind wir im Cirkel herumgeführt. — Hoffbauer, in seinem Grundrisse der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühl- vermögen und Begehrungsvermögen so an: „Wir sind uns mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben her- vorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vor- stellungen erzeugen in uns das Bestreben, ihren Gegen- stand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren, u. s. w. Hier ist einerley Grund, das Bestreben, den Ge- fühlen und Begierden untergelegt; und wenn der Unterschied in den Gegenständen und Zuständen liegen soll, so fragt sich, ob nicht das eigentlich Begehrte vielleicht die

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/84>, abgerufen am 20.04.2024.