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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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fortwährend. Wenn nun Störche und Tauben
Ehen haben; so wüßte ich nicht, warum sie der
Mensch aus mehrern Ursachen nicht hätte?

Der Mensch gegen den struppichten Bär und
den borstigen Ygel gesezt, ist ein schwächeres,
dürftigeres, nakteres Thier: es hat Hölen nöthig,
und diese werden, mit den vorigen Veranlassungen
sehr natürlich gemeinschaftliche Hölen.

Der Mensch ist ein schwächeres Thier, was in
mehrern Himmelsgegenden sehr übel den Jahrs-
zeiten ausgesezt wäre: das menschliche Weib hat
also als Schwangere, als Gebärerinn, einer ge-
sellschaftlichen Hülfe
mehr nöthig, als der
Straus, der seine Eier in die Wüste leget.

Endlich insonderheit das menschliche Junge,
der auf die Welt gesezte Säugling, wie sehr ist
er ein Vasall menschlicher Hülfe und geselliger Er-
barmung. Aus einem Zustande, wo er als Pflanze
am Herzen seiner Mutter hing, wird er auf die
Erde geworfen -- das schwächste hülfloseste Ge-
schöpf unter allen Thieren, wenn nicht mütterli-
che Brüste da wären, ihn zu nähren, und väter-
liche Knie entgegen kämen, ihn als Sohn aufzu-

neh-

fortwaͤhrend. Wenn nun Stoͤrche und Tauben
Ehen haben; ſo wuͤßte ich nicht, warum ſie der
Menſch aus mehrern Urſachen nicht haͤtte?

Der Menſch gegen den ſtruppichten Baͤr und
den borſtigen Ygel geſezt, iſt ein ſchwaͤcheres,
duͤrftigeres, nakteres Thier: es hat Hoͤlen noͤthig,
und dieſe werden, mit den vorigen Veranlaſſungen
ſehr natuͤrlich gemeinſchaftliche Hoͤlen.

Der Menſch iſt ein ſchwaͤcheres Thier, was in
mehrern Himmelsgegenden ſehr uͤbel den Jahrs-
zeiten ausgeſezt waͤre: das menſchliche Weib hat
alſo als Schwangere, als Gebaͤrerinn, einer ge-
ſellſchaftlichen Huͤlfe
mehr noͤthig, als der
Straus, der ſeine Eier in die Wuͤſte leget.

Endlich inſonderheit das menſchliche Junge,
der auf die Welt geſezte Saͤugling, wie ſehr iſt
er ein Vaſall menſchlicher Huͤlfe und geſelliger Er-
barmung. Aus einem Zuſtande, wo er als Pflanze
am Herzen ſeiner Mutter hing, wird er auf die
Erde geworfen — das ſchwaͤchſte huͤlfloſeſte Ge-
ſchoͤpf unter allen Thieren, wenn nicht muͤtterli-
che Bruͤſte da waͤren, ihn zu naͤhren, und vaͤter-
liche Knie entgegen kaͤmen, ihn als Sohn aufzu-

neh-
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[171/0177] fortwaͤhrend. Wenn nun Stoͤrche und Tauben Ehen haben; ſo wuͤßte ich nicht, warum ſie der Menſch aus mehrern Urſachen nicht haͤtte? Der Menſch gegen den ſtruppichten Baͤr und den borſtigen Ygel geſezt, iſt ein ſchwaͤcheres, duͤrftigeres, nakteres Thier: es hat Hoͤlen noͤthig, und dieſe werden, mit den vorigen Veranlaſſungen ſehr natuͤrlich gemeinſchaftliche Hoͤlen. Der Menſch iſt ein ſchwaͤcheres Thier, was in mehrern Himmelsgegenden ſehr uͤbel den Jahrs- zeiten ausgeſezt waͤre: das menſchliche Weib hat alſo als Schwangere, als Gebaͤrerinn, einer ge- ſellſchaftlichen Huͤlfe mehr noͤthig, als der Straus, der ſeine Eier in die Wuͤſte leget. Endlich inſonderheit das menſchliche Junge, der auf die Welt geſezte Saͤugling, wie ſehr iſt er ein Vaſall menſchlicher Huͤlfe und geſelliger Er- barmung. Aus einem Zuſtande, wo er als Pflanze am Herzen ſeiner Mutter hing, wird er auf die Erde geworfen — das ſchwaͤchſte huͤlfloſeſte Ge- ſchoͤpf unter allen Thieren, wenn nicht muͤtterli- che Bruͤſte da waͤren, ihn zu naͤhren, und vaͤter- liche Knie entgegen kaͤmen, ihn als Sohn aufzu- neh-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/177>, abgerufen am 16.04.2024.