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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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Liedern kommt wohl den Transgressionen bey,
die in seinem "Ein feste Burg ist unser
Gott!" "Gelobet seyst du Jesu Christ!"
"Christ lag in Todesbanden!"
und der-
gleichen vorkommen: und wie mächtig sind diese
Uebergänge und Jnversionen! Wahrhaftig
nicht Nothfälle einer ungeschliffenen Muse, für
die wir sie gütig annehmen: sie sind allen alten
Liedern solcher Art, sie sind der ursprünglichen,
unentnervten, freyen und männlichen Sprache
besonders eigen: Die Einbildungskraft führet
natürlich darauf, und das Volk, das mehr
Sinne und Einbildung hat, als der studirende
Gelehrte, fühlt sie, zumal von Jugend auf ge-
lernt, und sich gleichsam nach ihnen gebildet,
so innig und übereinstimmend, daß ich mich z.
E. wie über zehn Thorheiten unsrer Liederver-
besserung, so auch darüber wundern muß, wie
sorgfältig man sie wegbannet, und dafür die
schläfrigsten Zeilen, die erkünsteltsten Partikeln,
die mattesten Reime hineinpropfet. Eben als
wenn der grosse ehrwürdige Theil des Publi-
cums, der Volk heißt, und für den doch die
Gesänge castigirt werden, eine von den schö-
nen Regeln fühle, nach denen man sie castigi-
ret! Und Lehren in trockner, schläfriger, dog-
matischer Form, in einer Reihe todter, schlaf-
trunken, nickender Reime mehr fühlen, empfin-
den und behalten werde, als wo ihm durch

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Liedern kommt wohl den Transgreſſionen bey,
die in ſeinem „Ein feſte Burg iſt unſer
Gott!‟ „Gelobet ſeyſt du Jeſu Chriſt!‟
„Chriſt lag in Todesbanden!‟
und der-
gleichen vorkommen: und wie maͤchtig ſind dieſe
Uebergaͤnge und Jnverſionen! Wahrhaftig
nicht Nothfaͤlle einer ungeſchliffenen Muſe, fuͤr
die wir ſie guͤtig annehmen: ſie ſind allen alten
Liedern ſolcher Art, ſie ſind der urſpruͤnglichen,
unentnervten, freyen und maͤnnlichen Sprache
beſonders eigen: Die Einbildungskraft fuͤhret
natuͤrlich darauf, und das Volk, das mehr
Sinne und Einbildung hat, als der ſtudirende
Gelehrte, fuͤhlt ſie, zumal von Jugend auf ge-
lernt, und ſich gleichſam nach ihnen gebildet,
ſo innig und uͤbereinſtimmend, daß ich mich z.
E. wie uͤber zehn Thorheiten unſrer Liederver-
beſſerung, ſo auch daruͤber wundern muß, wie
ſorgfaͤltig man ſie wegbannet, und dafuͤr die
ſchlaͤfrigſten Zeilen, die erkuͤnſteltſten Partikeln,
die matteſten Reime hineinpropfet. Eben als
wenn der groſſe ehrwuͤrdige Theil des Publi-
cums, der Volk heißt, und fuͤr den doch die
Geſaͤnge caſtigirt werden, eine von den ſchoͤ-
nen Regeln fuͤhle, nach denen man ſie caſtigi-
ret! Und Lehren in trockner, ſchlaͤfriger, dog-
matiſcher Form, in einer Reihe todter, ſchlaf-
trunken, nickender Reime mehr fuͤhlen, empfin-
den und behalten werde, als wo ihm durch

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[65/0069] Liedern kommt wohl den Transgreſſionen bey, die in ſeinem „Ein feſte Burg iſt unſer Gott!‟ „Gelobet ſeyſt du Jeſu Chriſt!‟ „Chriſt lag in Todesbanden!‟ und der- gleichen vorkommen: und wie maͤchtig ſind dieſe Uebergaͤnge und Jnverſionen! Wahrhaftig nicht Nothfaͤlle einer ungeſchliffenen Muſe, fuͤr die wir ſie guͤtig annehmen: ſie ſind allen alten Liedern ſolcher Art, ſie ſind der urſpruͤnglichen, unentnervten, freyen und maͤnnlichen Sprache beſonders eigen: Die Einbildungskraft fuͤhret natuͤrlich darauf, und das Volk, das mehr Sinne und Einbildung hat, als der ſtudirende Gelehrte, fuͤhlt ſie, zumal von Jugend auf ge- lernt, und ſich gleichſam nach ihnen gebildet, ſo innig und uͤbereinſtimmend, daß ich mich z. E. wie uͤber zehn Thorheiten unſrer Liederver- beſſerung, ſo auch daruͤber wundern muß, wie ſorgfaͤltig man ſie wegbannet, und dafuͤr die ſchlaͤfrigſten Zeilen, die erkuͤnſteltſten Partikeln, die matteſten Reime hineinpropfet. Eben als wenn der groſſe ehrwuͤrdige Theil des Publi- cums, der Volk heißt, und fuͤr den doch die Geſaͤnge caſtigirt werden, eine von den ſchoͤ- nen Regeln fuͤhle, nach denen man ſie caſtigi- ret! Und Lehren in trockner, ſchlaͤfriger, dog- matiſcher Form, in einer Reihe todter, ſchlaf- trunken, nickender Reime mehr fuͤhlen, empfin- den und behalten werde, als wo ihm durch Bild E

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/69>, abgerufen am 25.04.2024.