Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

Grundsätze zu sichern, und das poco piu
und poco meno der Leidenschaften, der
Furcht und des Mitleids, dem Zuschauer
auf ächter Waage vorzuwägen. Die neuere
Tragödie, wenn sie gleich ihren Bogen
nicht so scharf spannen und ihre Käule so
rasch schwingen kann, als die alte, hat
dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie
spricht zum innersten Gefühl, zur treuesten
Ehrlichkeit des Menschen; die Uebelthat
kann sie auch jenseit der Gesetze verfolgen,
so wie das Lustspiel die Thorheit auch jen-
seit der Gesetze straft. Beide sind Spre-
cherinnen vor dem erhabensten Richterstuhl
unsres Geschlechts, vor der Humanität
selbst, und ventiliren, bescheinigen und ge-
genbescheinigen vor ihr auf die schärfste,
freieste Weise.

Leßing kannte diesen Proceß über die
innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs

Grundſaͤtze zu ſichern, und das poco piu
und poco meno der Leidenſchaften, der
Furcht und des Mitleids, dem Zuſchauer
auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen. Die neuere
Tragoͤdie, wenn ſie gleich ihren Bogen
nicht ſo ſcharf ſpannen und ihre Kaͤule ſo
raſch ſchwingen kann, als die alte, hat
dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie
ſpricht zum innerſten Gefuͤhl, zur treueſten
Ehrlichkeit des Menſchen; die Uebelthat
kann ſie auch jenſeit der Geſetze verfolgen,
ſo wie das Luſtſpiel die Thorheit auch jen-
ſeit der Geſetze ſtraft. Beide ſind Spre-
cherinnen vor dem erhabenſten Richterſtuhl
unſres Geſchlechts, vor der Humanitaͤt
ſelbſt, und ventiliren, beſcheinigen und ge-
genbeſcheinigen vor ihr auf die ſchaͤrfſte,
freieſte Weiſe.

Leßing kannte dieſen Proceß uͤber die
innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0150" n="141"/>
Grund&#x017F;a&#x0364;tze zu &#x017F;ichern, und das <hi rendition="#aq">poco piu</hi><lb/>
und <hi rendition="#aq">poco meno</hi> der Leiden&#x017F;chaften, der<lb/>
Furcht und des Mitleids, dem Zu&#x017F;chauer<lb/>
auf a&#x0364;chter Waage vorzuwa&#x0364;gen. Die neuere<lb/>
Trago&#x0364;die, wenn &#x017F;ie gleich ihren Bogen<lb/>
nicht &#x017F;o &#x017F;charf &#x017F;pannen und ihre Ka&#x0364;ule &#x017F;o<lb/>
ra&#x017F;ch &#x017F;chwingen kann, als die alte, hat<lb/>
dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie<lb/>
&#x017F;pricht zum inner&#x017F;ten Gefu&#x0364;hl, zur treue&#x017F;ten<lb/>
Ehrlichkeit des Men&#x017F;chen; die Uebelthat<lb/>
kann &#x017F;ie auch jen&#x017F;eit der Ge&#x017F;etze verfolgen,<lb/>
&#x017F;o wie das Lu&#x017F;t&#x017F;piel die Thorheit auch jen-<lb/>
&#x017F;eit der Ge&#x017F;etze &#x017F;traft. Beide &#x017F;ind Spre-<lb/>
cherinnen vor dem erhaben&#x017F;ten Richter&#x017F;tuhl<lb/>
un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts, vor der <hi rendition="#g">Humanita&#x0364;t</hi><lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t, und ventiliren, be&#x017F;cheinigen und ge-<lb/>
genbe&#x017F;cheinigen vor ihr auf die &#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;te,<lb/>
freie&#x017F;te Wei&#x017F;e.</p><lb/>
        <p>Leßing kannte die&#x017F;en Proceß u&#x0364;ber die<lb/>
innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0150] Grundſaͤtze zu ſichern, und das poco piu und poco meno der Leidenſchaften, der Furcht und des Mitleids, dem Zuſchauer auf aͤchter Waage vorzuwaͤgen. Die neuere Tragoͤdie, wenn ſie gleich ihren Bogen nicht ſo ſcharf ſpannen und ihre Kaͤule ſo raſch ſchwingen kann, als die alte, hat dennoch mit ihr Einerlei Endzweck. Sie ſpricht zum innerſten Gefuͤhl, zur treueſten Ehrlichkeit des Menſchen; die Uebelthat kann ſie auch jenſeit der Geſetze verfolgen, ſo wie das Luſtſpiel die Thorheit auch jen- ſeit der Geſetze ſtraft. Beide ſind Spre- cherinnen vor dem erhabenſten Richterſtuhl unſres Geſchlechts, vor der Humanitaͤt ſelbſt, und ventiliren, beſcheinigen und ge- genbeſcheinigen vor ihr auf die ſchaͤrfſte, freieſte Weiſe. Leßing kannte dieſen Proceß uͤber die innere Ehrlichkeit eines Charakters aufs

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/150
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/150>, abgerufen am 20.04.2024.