Viele Oden des Horaz, noch mehr aber seine Sermonen und sogenannte Satyren sind feine Bearbeitungen der Mensch- heit; sie haben alle, wenigstens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge- bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Person, dieser Stände nach dem Richtmaas des Wahren und Guten, des Anständigen und Schönen zu ordnen. Persius, Juvenal, Lucan und andre wir- ken dahin, jeder nach seiner Weise; vor allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann, seine Gesänge mit einem zarten Druck der Menschenliebe. Unmöglich ists, daß ein Mann oder Jüngling, dem das Innere dieser Heiligthümer aufgeschlossen wird, sein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fühlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewähren. Es ist, als ob jenen großen Autoren die Menschheit
Viele Oden des Horaz, noch mehr aber ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind feine Bearbeitungen der Menſch- heit; ſie haben alle, wenigſtens mittelbar, zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge- bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und Sitten jener Perſon, dieſer Staͤnde nach dem Richtmaas des Wahren und Guten, des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen. Perſius, Juvenal, Lucan und andre wir- ken dahin, jeder nach ſeiner Weiſe; vor allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann, ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der Menſchenliebe. Unmoͤglich iſts, daß ein Mann oder Juͤngling, dem das Innere dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird, ſein Inneres nicht durchdrungen und zu einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es iſt, als ob jenen großen Autoren die Menſchheit
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0049"n="40"/><p>Viele Oden des Horaz, noch mehr aber<lb/>ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind<lb/><hirendition="#g">feine Bearbeitungen der Menſch</hi>-<lb/><hirendition="#g">heit</hi>; ſie haben alle, wenigſtens mittelbar,<lb/>
zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge-<lb/>
bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und<lb/>
Sitten jener Perſon, dieſer Staͤnde nach<lb/>
dem Richtmaas des Wahren und Guten,<lb/>
des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen.<lb/>
Perſius, Juvenal, Lucan und andre wir-<lb/>
ken dahin, jeder nach ſeiner Weiſe; vor<lb/>
allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann,<lb/>ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der<lb/>
Menſchenliebe. Unmoͤglich iſts, daß ein<lb/>
Mann oder Juͤngling, dem das Innere<lb/>
dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird,<lb/>ſein Inneres nicht durchdrungen und zu<lb/>
einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht<lb/>
wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es iſt,<lb/>
als ob jenen großen Autoren die Menſchheit<lb/></p></div></body></text></TEI>
[40/0049]
Viele Oden des Horaz, noch mehr aber
ſeine Sermonen und ſogenannte Satyren ſind
feine Bearbeitungen der Menſch-
heit; ſie haben alle, wenigſtens mittelbar,
zum Zweck, einen Umriß in das rohe Ge-
bilde des Lebens zu bringen, die Ideen und
Sitten jener Perſon, dieſer Staͤnde nach
dem Richtmaas des Wahren und Guten,
des Anſtaͤndigen und Schoͤnen zu ordnen.
Perſius, Juvenal, Lucan und andre wir-
ken dahin, jeder nach ſeiner Weiſe; vor
allen aber bezeichnet Virgil, wo er kann,
ſeine Geſaͤnge mit einem zarten Druck der
Menſchenliebe. Unmoͤglich iſts, daß ein
Mann oder Juͤngling, dem das Innere
dieſer Heiligthuͤmer aufgeſchloſſen wird,
ſein Inneres nicht durchdrungen und zu
einer Form gebildet fuͤhlte, die ihm vielleicht
wenige neuere Schriften gewaͤhren. Es iſt,
als ob jenen großen Autoren die Menſchheit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <http://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/49>, abgerufen am 17.01.2021.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2021. URL: http://www.deutschestextarchiv.de/.