Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geschmack vor; in Deutschland scheint
es ein Lieblingsgesichtspunkt zu werden, in
den Sitten seiner Helden, mithin wohl
gar in Homer selbst Mangel an Bildung,
an moralischem Geschmack zu finden
und dies unsterbliche Gedicht endlich nur
als die "historische Tradition wil-
der Zeiten" zu behandeln, die, wie man
sich ausdrückt, Homers glühende Einbil-
dungskraft aufnahm und veststellte. So
viel Wahres dieser Gesichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag, so zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre, und sein Weniges
gewiß nicht auf die nützlichste Weise. Dazu
gehört keine Kunst, hie und da Ueberein-
stimmung der Zeiten, die er besang, mit
Völkern, die auf einer, wie uns dünkt,
niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin-
den, diese gefundene Aehnlichkeit zu über-

reich warf man ihm vormals nur Mangel
an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint
es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in
den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl
gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung,
an moraliſchem Geſchmack zu finden
und dies unſterbliche Gedicht endlich nur
als die „hiſtoriſche Tradition wil-
der Zeiten“ zu behandeln, die, wie man
ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil-
dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So
viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man-
chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge-
wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges
gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu
gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein-
ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit
Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt,
niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin-
den, dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0086" n="77"/>
reich warf man ihm vormals nur Mangel<lb/>
an Ge&#x017F;chmack vor; in Deut&#x017F;chland &#x017F;cheint<lb/>
es ein Lieblingsge&#x017F;ichtspunkt zu werden, in<lb/>
den Sitten &#x017F;einer Helden, mithin wohl<lb/>
gar in Homer &#x017F;elb&#x017F;t Mangel an <hi rendition="#g">Bildung</hi>,<lb/>
an <hi rendition="#g">morali&#x017F;chem</hi> Ge&#x017F;chmack zu finden<lb/>
und dies un&#x017F;terbliche Gedicht endlich nur<lb/>
als die &#x201E;<hi rendition="#g">hi&#x017F;tori&#x017F;che Tradition wil</hi>-<lb/><hi rendition="#g">der Zeiten</hi>&#x201C; zu behandeln, die, wie man<lb/>
&#x017F;ich ausdru&#x0364;ckt, Homers glu&#x0364;hende Einbil-<lb/>
dungskraft aufnahm und ve&#x017F;t&#x017F;tellte. So<lb/>
viel Wahres die&#x017F;er Ge&#x017F;ichtspunkt in man-<lb/>
chem Betracht zeigen mag, &#x017F;o zeigt er ge-<lb/>
wiß nicht alles Wahre, und &#x017F;ein Weniges<lb/>
gewiß nicht auf die nu&#x0364;tzlich&#x017F;te Wei&#x017F;e. Dazu<lb/>
geho&#x0364;rt keine Kun&#x017F;t, hie und da Ueberein-<lb/>
&#x017F;timmung der Zeiten, die er be&#x017F;ang, mit<lb/>
Vo&#x0364;lkern, die auf einer, wie uns du&#x0364;nkt,<lb/>
niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin-<lb/>
den, die&#x017F;e gefundene Aehnlichkeit zu u&#x0364;ber-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0086] reich warf man ihm vormals nur Mangel an Geſchmack vor; in Deutſchland ſcheint es ein Lieblingsgeſichtspunkt zu werden, in den Sitten ſeiner Helden, mithin wohl gar in Homer ſelbſt Mangel an Bildung, an moraliſchem Geſchmack zu finden und dies unſterbliche Gedicht endlich nur als die „hiſtoriſche Tradition wil- der Zeiten“ zu behandeln, die, wie man ſich ausdruͤckt, Homers gluͤhende Einbil- dungskraft aufnahm und veſtſtellte. So viel Wahres dieſer Geſichtspunkt in man- chem Betracht zeigen mag, ſo zeigt er ge- wiß nicht alles Wahre, und ſein Weniges gewiß nicht auf die nuͤtzlichſte Weiſe. Dazu gehoͤrt keine Kunſt, hie und da Ueberein- ſtimmung der Zeiten, die er beſang, mit Voͤlkern, die auf einer, wie uns duͤnkt, niedrigern Stuffe der Cultur leben, zu fin- den, dieſe gefundene Aehnlichkeit zu uͤber-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/86
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/86>, abgerufen am 18.04.2024.