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Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794.

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treiben, und dabei das Auge vor allem
sittlichen Gefühl, insonderheit aber vor der
Kunst und Weisheit zuzuschließen, die Ho-
mer unstreitig auf die Composition seines
Gedichts gewandt hat.

Bei jeder Kunstcomposition fragt man:
wozu hat sie der Künstler componiret?
was war dabei seine Idee? und wie setzte
er die Theile seines Werks zusammen?
Sind Homers Rhapsodieen die rohe Stim-
me eines griechischen Barden, der einem
rohen Volk Mährchen aus roheren Zeiten
vorsingt, um diese mit ihren Unförmlichkei-
ten ja nicht untergehen zu lassen; warum
wandte man Jahrtausende hindurch auf
ihn so viele Mühe? Waren die Griechen,
die Römer, und unter andern Nationen
die feinsten Denker, waren unter den Grie-
chen Gesetzgeber, Künstler, Weise, Dichter
nicht abergläubig und blödsinnig, daß sie

treiben, und dabei das Auge vor allem
ſittlichen Gefuͤhl, inſonderheit aber vor der
Kunſt und Weisheit zuzuſchließen, die Ho-
mer unſtreitig auf die Compoſition ſeines
Gedichts gewandt hat.

Bei jeder Kunſtcompoſition fragt man:
wozu hat ſie der Kuͤnſtler componiret?
was war dabei ſeine Idee? und wie ſetzte
er die Theile ſeines Werks zuſammen?
Sind Homers Rhapſodieen die rohe Stim-
me eines griechiſchen Barden, der einem
rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten
vorſingt, um dieſe mit ihren Unfoͤrmlichkei-
ten ja nicht untergehen zu laſſen; warum
wandte man Jahrtauſende hindurch auf
ihn ſo viele Muͤhe? Waren die Griechen,
die Roͤmer, und unter andern Nationen
die feinſten Denker, waren unter den Grie-
chen Geſetzgeber, Kuͤnſtler, Weiſe, Dichter
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[78/0087] treiben, und dabei das Auge vor allem ſittlichen Gefuͤhl, inſonderheit aber vor der Kunſt und Weisheit zuzuſchließen, die Ho- mer unſtreitig auf die Compoſition ſeines Gedichts gewandt hat. Bei jeder Kunſtcompoſition fragt man: wozu hat ſie der Kuͤnſtler componiret? was war dabei ſeine Idee? und wie ſetzte er die Theile ſeines Werks zuſammen? Sind Homers Rhapſodieen die rohe Stim- me eines griechiſchen Barden, der einem rohen Volk Maͤhrchen aus roheren Zeiten vorſingt, um dieſe mit ihren Unfoͤrmlichkei- ten ja nicht untergehen zu laſſen; warum wandte man Jahrtauſende hindurch auf ihn ſo viele Muͤhe? Waren die Griechen, die Roͤmer, und unter andern Nationen die feinſten Denker, waren unter den Grie- chen Geſetzgeber, Kuͤnſtler, Weiſe, Dichter nicht aberglaͤubig und bloͤdſinnig, daß ſie

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 3. Riga, 1794, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet03_1794/87>, abgerufen am 25.04.2024.